Teil III
Der Zwischenzustand des Werdens
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Aus [dem Zyklus] Eine tiefsinnige Belehrung zur Spontanen Befreiung
durch die Andacht der Friedvollen und Schrecklichen [Gottheiten folgt
nun die klare Anleitung zur Einsicht in den Zwischenzustand des Werdens.
genannt Die Große Befreiung durch Hören.
Om! Den Lama, die göttlichen Yi-dam und die Scharen der Dakini
verehre ich mit einem Herzen voll Hingabe und flehe sie an, mich zur
Befreiung im Zwischenzustand zu führen! Aus der Großen Befreiung durch
Hören wurde vorher der Zwischenzustand des Wahren Seins erklärt, nun
sei der Zwischenzustand des Werdens mit folgenden Worten klar dargelegt:
Obschon vorher vielfach zur Einsicht in den Zwischenzustand des Wahren
Seins verholfen wurde, so ist doch mit
Ausnahme für jene, die eine große Praxis in der Meditation haben und über
bedeutende Ausstrahlungen ihres Karma verfügen, die Einsicht schwer zu
erlangen, zumal aufgrund von Angst, Furcht und üblen Karmas für
diejenigen, die keine Übung in der Meditation haben und bedeutende
Verblendungen aufweisen. So gilt es, sie mit diesen Worten klar zu
unterweisen, nachdem sie nun über den zehnten Tag hinausgelangt sind.
Den Drei Kostbarkeiten widme man ein Opferritual (puja). Die
Buddhas und Bodhisattvas bitte man flehentlich um ihre hilfreiche
Unterstützung. Danach rufe man den Toten drei- oder siebenmal bei seinem
Namen und spreche:
»Sohn der Edlen, höre gut zu und präge es dir ein! Die Leiber der
Höllenwesen, der Götter und der Wesen im Zwischenzustand, werden nicht auf
natürliche Weise geboren. Weiter, da du, als dir im Zwischenzustand des
Wahren Seins die friedvollen und schrecklichen Erscheinungen aufgingen,
sie nicht [in ihrem Wahren Sein] erkanntest, bist du nach
vierundzwanzigeinhalb Tagen durch all den Schrecken ohnmächtig geworden.
Doch als du aus der Ohnmacht erwachtest, war dein Intellekt klar geworden,
und ein Körper gleich deinem früheren, entstand dir.
Ferner wird aus einem Tantra zitiert:
>Versehen mit einer Gestalt, nach Früherem werdend und mit allen
Sinnesorganen versehen, ohne Hindernis durch alles hindurchgehend, mit der
wunderbaren Kraft aus seinem Karma, so wird er geschaut von denen, die
gleicher Gattung sind oder den reinen Götterblick [besitzen].<
>Früher<, das heißt: Du hast eine Gestalt wie von Fleisch und Blut,
[geschaffen] durch deine früheren Neigungen. Ferner wird sie etwas von den
Merkmalen [der Wesen] in den glücklichen Weltaltern haben und voll Licht
sein. Da diese Gestalt eine Erscheinung der Geist-Natur ist, wird sie die
Gestalt des Geistes im Zwischenzustand genannt. Wenn du unter den Göttern
wiedergeboren wirst, dann erscheint dir zu dieser Zeit der Lebensraum der
Götter, oder der Asuras, der Menschen, der Tiere, der Hungergeister, der
Höllenwesen. Wo immer du geboren wirst, das wird dir erscheinen. Deshalb
sagt man >früher<.
Vor nicht mehr als dreieinhalb Tagen dachtest du, daß du eine fleischliche
Gestalt hättest, gestaltet nach deinen früheren Neigungen. Und >werdend<
sagt man, weil danach eben dir erscheinen wird, wo du später geboren
werden wirst. Deshalb sagt man: >nach Früherem werdend<.
Hänge deshalb den Erscheinungen nicht an, wie immer sie auch sein mögen,
verlange und begehre nicht danach! Verlangst du jedoch voll Begehren
danach, dann wirst du ins Leid geraten, da du doch unter den sechs
Daseinshereichen umherirrst. Obgleich dir vorher der Zwischenzustand des
Wahren Seins aufgegangen ist, hast du seinen Sinn nicht begriffen, und so
mußt du nun hier umherirren. Wenn du es nun vermagst, dich der
Wirklichkeit ohne Ablenkung ganz hinzugeben, dann wirst du die Geist-Natur
in ihrer klaren Lichthaftigkeit als leer, nackt, verzehrend [erfahren], so
wie dein Lama dich früher zur Einsicht brachte. Verharre gelassen in
diesem Zustand, der frei von [allem] Begreifen und Tun ist. So wirst du
nicht in den Mutterschoß eintreten, sondern die Befreiung erlangen.
Wenn du dies aber nicht wahrlich erkennst, dann meditiere ununterbrochen
voll Inbrunst und Verehrung, daß dein jeweiliger göttlicher Yi-dam,
oder dein Lama sich über deinem Scheitel befinde. Dies ist wichtig, sehr
wichtig! Immer wieder tue dies ohne Ablenkung!«
So erkläre man [dem Toten]. Erfaßt er dies wirklich, dann ist er befreit
und braucht nicht unter den sechs Daseinsbereichen herumzuirren. Doch da
kraft des schlechten Karmas dies schwer zu erkennen ist, spreche man
folgendes:
«Sohn der Edlen, höre gesammelten Sinnes zu! Es heißt:
>Mit allen Sinnesorganen begabt, ohne Hindernis [durch alles]
hindurchgehend<. Auch wenn zu Lebzeiten dein Auge blind und du taub und
lahm usw. gewesen bist, so sind dir doch aufgrund des dem Zwischenzustand
eigenen Sehens die Gestalten klar; dem Hören die Töne wahrnehmbar, da
nämlich das Wahrnehmungsvermögen ohne die Behinderung [durch die
Sperrigkeit der Materie] alles klar wahrnimmt, so daß dir alles
vollständig erscheint. Deshalb wurde [im Tantra] gesagt: >mit allen Sinnen
begabt< . Erkenne doch, daß — nachdem du gestorben bist - alle Anzeichen
vorhanden sind, daß du dich im Zwischenzustand bewegst. Vergegenwärtige
dir die Unterweisung, [die du zu Lebzeiten empfangen hast!]
Sohn der Edlen, es heißt deshalb >ohne Hindernis hindurchgehend<, weil du
ein Geist-Wesen bist. Ohne Grundlage für die innere Geist-Natur hast du
keinen materiellen Körper. Deshalb hast du nun die Macht, durch den Berg
Meru, durch Häuser, durch Erde und Steine. Berge und Hügel, durch alles
ohne Hindernis frei hindurchzugehen. Nun hast du [die Macht,] überall hin-
und herzugehen, außer in den Mutterschoß und den Vajrasitz, sogar durch
den Weltberg Meru, den König der Berge. Da dies auch ei Zeichen dafür ist,
daß du im Zwischenzustand des Werdens dich befindest, vergegenwärtige dir
die Unterweisungen deiner Lamas und flehe den Herrn des Großen Erbarmens (Avalokiteshvara)
an! Sohn der Edlen, es heißt, >im Besitz der wundertätigen Macht des
Karma<: Da du zwar nicht die wundertätige Macht, aufgrund von Fähigkeiten
oder der Meditation, sondern die wunderbare Macht besitzt, die aus der
Kraft des Karma entsteht in Übereinstimmung mit deinen früheren Taten,
kannst du in einem Augenblick die vier Kontinente, den Weltberg Meru
durchstreifen. An welchen Ort auch immer du dich erinnerst, im Nu bist du
bereits dort. Du hast die Macht, dorthin zu gelangen, so wie ein Mann den
Arm streckt und beugt. Weder sollst du dir die verschiedenartige
Beschaffenheit dieser ungeahnten wunderbaren Macht nicht vergegenwärtigen,
noch sollst du sie dir vergegenwärtigen! Alles was du dir
vergegenwärtigst, dies und das, und mag es auch nicht in der Macht eines
Buddha oder der Menschen sein, es zu tun, [so kannst du es tun], da du
jetzt einer bist, der seit urdenklicher Zeit die Macht eines Buddha
besitzt. Dies erkenne doch und flehe zu deinem Lama!
Sohn der Edlen, es heißt: >So wird er geschaut von denen, die gleicher
Gattung sind oder den reinen Götterblick [besitzen].< Es ist so, daß
diejenigen Lebewesen, die innerhalb des gleichen Daseinsbereichs geboren
wurden, im Zwischenzustand einander erkennen können. Wenn also welche
unter den Göttern wiedergeboren werden, dann können sie sich untereinander
erkennen. Da es nun so ist, daß [nur] diejenigen einander sehen [können],
die in demselben der sechs Daseinsbereiche wiedergeboren werden, darfst du
dich nicht danach sehnen, sondern sollst über den Großen Mitleidsvollen (Avalokiteshvara)
meditieren.
Ferner heißt es: >geschaut von denen, die ...... einen reinen Götterblick
[besitzen]<. Zwar wird [das jeweilige Lebewesen im Zwischenzustand]
geschaut mit dem klaren Götterblick, der durch Meditation im Zustand der
Versenkung [erworben wurde], der aber nicht aus der Macht göttlichen
Verdienstes zustande kommt. Ferner trifft es nicht zu, daß [man es mit dem
Götterblick] immer sehen kann, denn nur wenn man sich auf das Sehen
besinnt, schaut man [das Lebewesen im Zwischenzustand]. Besinnt man sich
nicht darauf, schaut man es auch nicht. So geschieht es auch, wenn man
durch [eine andere Betrachtung] abgelenkt wird.«
Kommentar:
Nachdem der Sterbende das Aufleuchten des Urlichts, seiner Geist-Natur,
die identisch mit der Leere ist, nicht erkannte, und auch im
Zwischenzustand des Seins-an-sich, als die Leere in den lichten Gestalten
der fünf Buddhas und in deren schrecklichen Aspekten erschien, nicht zur
Einsicht gelangte, nehmen nun seine vitalen Neigungen immer mehr zu. Er
erlebt die schiere Existenzangst, er fühlt sich ohne Körper unbehaust,
verfolgt, gejagt, Kälte und Sturm beuteln ihn, und auf der Suche nach
einem Schlupfwinkel findet er sich unversehens im Mutterschoß. Diesen
Ablauf, den die Dinge nun von sich nehmen möchten, gilt es durch die
Anweisungen des Lama zu unterbrechen, oder zumindest in eine Bahn zu
bringen, die eine Wiedergeburt unter schlechten Bedingungen unterbindet.
Der Zwischenzustand des Werdens bezeichnet somit eine Phase, in der die
Vitalität des Toten nach einer neuen Verkörperung sucht, also eine Phase,
die vor der Empfängnis liegt. Das tiefe Verlangen, wieder einen Körper zu
besitzen, drückt sich nur zu deutlich darin aus, daß das Geist-Wesen nun
glaubt, bereits einen Körper zu haben, ja sogar weiß und empfindet, wie er
beschaffen ist.
Um diesen vermeintlichen Körper, der nur in der Wahrnehmung des
Geist-Wesens existiert, mit seinen Merkmalen zu erfassen, wird ein Vers
aus einem Tantra zitiert, das nicht näher bezeichnet wird. Deshalb ist es
nicht möglich, diesen Vers in seiner Wiedergabe der Worte zu überprüfen.
Der Vers ist nicht nur in der deutschen Übersetzung schwer verständlich
und doppeldeutig, sondern auch im Original. Diese Doppeldeutigkeit wurde
auch von den einheimischen Gelehrten er-spürt, weshalb sich daran einander
widersprechende Auffassungen über das Aussehen dieses scheinbaren Körpers
im Zwischenzustand anschlossen. Der vorliegende Text des Bardothödol
in der Redaktion von Karmalingpa interpretiert das mißverständliche »nach
Früherem werdend« in folgender Weise: der vermeintliche Körper im
Zwischenzustand ist durch eine Ambivalenz gekennzeichnet, einesteils ist
er geformt durch die Neigungen, die den früheren Taten des Verstorbenen
innewohnten, gleichzeitig trägt er auch das Aussehen des früheren Körpers,
andernteils aber trägt dieser Körper bereits Anzeichen der zukünftigen
Existenz, er hat Merkmale lichter Weltenräume, und durch diesen
scheinbaren Körper werden für den Verstorbenen die Orte seiner nächsten
Existenz deutlich. — Die weiteren Merkmale dieses Schein-Körpers werden im
Text selbst eindeutig erklärt.
»Sohn der Edlen, da du einen so beschaffenen Leib hast, wird es wie im
Traum zugehen, wenn du deine Landsleute und Verwandten triffst: Obwohl du
deine Freunde und Verwandten mit Worten ansprichst, werden sie keine
Antwort geben, und weil du deine Freunde und Verwandten weinen siehst,
wirst du denken: >Ich bin tot, was soll ich nur tun?< und dabei so sehr
leiden, wie ein Fisch, der auf heißem Sand geröstet wird. Es hat aber
keinen Sinn, daß du dich darüber so grämst. Hast du einen Lama, dann flehe
ihn an oder deinen göttlichen Yi—dam oder den Herrn des Großen
Mitleids (Avalokiteshvara). Da es keinen Sinn hat, dich nach deinen
Verwandten zu sehnen, so verlange nicht danach. Wenn du den Herrn des
Großen Mitleids (Avalokiteshvara) anflehst, dann werden weder Leid noch
Schreckensbilder dich ängstigen.
Sohn der Edlen, da deine Geist—Natur von dem unsteten Wind deines Karma
angetrieben wird, ist sie ihrer selbst nicht mehr sicher ohne Stütze und
wird wie eine Feder vorn Wind hinweggetragen und reitet dennoch wirbelnd
und taumelnd das Pferd des Odems. Zu den Weinenden wirst du sagen >Ich bin
doch hier, weint nicht !- Aber da sie dich nicht hören, wirst du denken
>Ich bin tot<, und so kommt großes Leid über dich. Solches Leid füge dir
daher nicht zu! Tag und Nacht wird ein graues Etwas, wie das graue Licht
des Herbstes, immer da sein, so werden die Tage des Zwischenzustands, der
ein, zwei, drei, vier, fünf, sechs oder sieben Wochen usw. bis zu
neunundvierzig Tagen dauern kann, sein. Für gewöhnlich heißt es, daß die
Leiden des Zwischenzustands des Werdens bis zu einundzwanzig Tagen
andauern können, obschon dies nicht bestimmt ist, denn [es hängt] von der
Macht des Karma ab.
Sohn der Edlen, zu dieser Zeit wird der Sturm deines Karma, rot und
bedrohend, äußerst schrecklich sein, und er wird bis zur Unerträglichkeit
wüten und dich von hinten anpacken. Davor fürchte dich nicht, es ist eine
trügerische Erscheinung deiner selbst. Eine ganz furchtbare, große
Dunkelheit, die unerträglich ist, geht dir voraus. Verschiedenes,
schreckliches Geschrei ertönt, wie: >Schlage, töte!< Davor fürchte dich
nicht! Aber denen, die stark verblendet sind, werden die fleischfressenden
Dämonen ihrer eigenen Taten, verschiedene Waffen schwingend, unter großem
Gedröhne und Kriegsgeschrei wie: >Tötet, tötet! Schlagt, schlagt!<
erscheinen. Und dir wird vorkommen, als ob verschiedene, furchterregende
Bestien hinter dir herjagten, als ob Schnee und Regen, Schneestürme und
Finsternis zusammen mit vielen Kriegern dich verfolgten. Die Geräusche
berstender Berge, überströmender Seen und um sich greifenden Feuers,
zusammen mit dem Heulen des Sturmes werden entstehen, und aus Angst davor
wirst du blindlings fliehen. Vor dir schneiden jedoch drei Abgründe [dir
den Weg ab]. Sie sind weiß, rot und schwarz; tiefgähnend und
furchterregend werden sie Stücke aus dir machen.
Sohn der Edlen, in Wahrheit sind dies keine Abgründe, sondern die drei
Verzerrungen: Haß, Begehren und Unwissen. Zu dieser Zeit mußt du erkennen,
daß du im Zwischenzustand des Werdens bist, und den Großen Mitleidsvollen
mit seinem Namen anrufen: >Herr des Großen Mitleids, mein Lama, ihr Drei
Kostbarkeiten, mein Name ist N. N., laßt mich nicht in einen der üblen
Lebensbereiche eintreten!< So bete inständig und vergiß es nicht!
Ferner werden diejenigen, die [Weisheit und Tugend] gesammelt, das Gute
getan und die Religion treulich geübt haben, von allerlei Arten
vollkommenen Glücks eingeladen, da sie in verschiedener Weise die
Mannigfaltigkeit vollkommenen Glücklichseins erfahren. Diejenigen, die
weder etwas Gutes oder Böses getan haben, sondern in Gleichgültigkeit und
Unwissen verharrten, die werden nichts an Bösem oder Gutem erfahren,
sondern nur Gleichgültigkeit und Unwissen wird ihnen aufgehen. Was immer
aufsteigen mag, o Sohn der Edlen, seien es weltliche Güter und Genüsse
oder Glück, so begehre und verlange nicht danach. Verehre deinen Lama und
die [Drei] Kostbarkeiten! Die Begehrlichkeit des Geistes gib in deinem
Denker, auf! Während dir weder Gutes noch Böses erscheint, steigt
Gleichmut in dir auf; und deine Geist-Natur verharre ohne Konzentration
und ohne Ablenkung im Wesen des Großen Siegels. Dies ist wichtig! Sohn der
Edlen, zu dieser Zeit wirst du dich bei Brücken, Tempeln und Klöstern,
Grashütten, Stupas usw. aufhalten, aber du wirst nicht lange bleiben
können, da deine Geist-Natur ohne Körper sich nicht niederlassen kann. Du
fühlst dich bedrängt, verärgert, verprellt; dein Intellekt ist zerstreut,
taumelnd und diffus. Zu dieser Zeit wirst du nur einen Gedanken haben:
>Ich bin tot, was soll ich nur tun?<, und während dir diese Gedanken
bewußt werden, steigt dir ein starkes Mitleid [mit dir selbst] auf. Und so
wirst du unendlich großes Leid erfahren. Hänge dich nicht an einen Ort, da
du doch wandern mußt, vergegenwärtige dir dies! Tu nicht dies und das,
sondern laß deinen Geist in völligem Gleichmut! Es wird die Zeit kommen,
da du außer den [dir im Toten-opfer] gewidmeten Speisen nichts zu essen
hast und deine Freunde nicht [mehr] zuverlässig sind. Dies sind die
Anzeichen dafür, daß du als Geist-Wesen im Zwischenzustand des Werdens
umherirren mußt. In diesem Augenblick werden sowohl Leid als auch Freude
durch dein Karma bedingt. Da du in deinem eigenen Land umherschweifst,
deine Nächsten und sogar deine eigene Leiche siehst, wirst du voll Leid
denken: >Nun bin ich tot!< Danach verliert das Geist-Wesen seine
Zuversicht; und du denkst, wäre es nicht geschickt, irgendeinen Körper zu
erlangen? Und dir wird sein, als ob du überall umherwandertest auf der
Suche nach einem Körper. Auch wenn du gar neunmal in die Leiche eingehen
kannst, so wird sie im Winter einfrieren und im Sommer verfaulen, und zwar
aufgrund der Dauer [deines Aufenthalts] im Zwischenzustand des Wahren
Seins. Und wenn das nicht zutrifft, so werden deine Nächsten [die Leiche]
verbrennen oder in der Erde vergraben oder den Vögeln und Raubtieren zum
Fraße gegeben haben, so daß du nichts mehr zum Eingehen vorfindest. So
bist du darüber ganz und gar nicht erfreut, sondern hast das Gefühl, als
ob du zwischen Erde und Steinen eingezwängt würdest. Solches Leid erfährst
du, weil du dich im Zwischenzustand des Werdens befindest. Auch weil du
noch einen Körper suchst, wird dir nichts als Leid zuteil werden. Tue
daher nichts, um nach einem Körper zu verlangen, verweile im Wesen [dieses
Nichtsuchens] und sei ohne Zerstreuung!«
So zur Einsicht verholfen, wird [der Tote] im Zwischenzustand die
Befreiung erlangen.
Kommentar:
Im folgenden Abschnitt werden die Stimmungen. in denen sich der Tote nun
befindet, eindringlich geschildert. Unter anderem heißt es, daß die
Geist-Natur wie eine Feder vom Wind hinweggetragen wird, daß sie das Pferd
des Odems reitet. Diese Bilder beruhen auf einer ganz bestimmten
Vorstellung, die in der buddhistischen Literatur immer wieder auftaucht.
Der Geist hat als Träger nicht nur den grobmateriellen Körper, sondern
liegt unmittelbar auf einer feinstofflichen Substanz. Diese feinstoffliche
Substanz ist in erster Linie der Träger des Geistes, sie ist in sich
beweglich, flüchtig, nicht-materiell. (Vgl. den einleitenden Kommentar zu
Teil I) Diese Substanz wird mit dem Sanskrit-Wort prana, tib. rlung
bezeichnet. Die Bedeutungsskala reicht von Wind, Atem über Lebensodem bis
Vitalität, Lebensenergie. In den auf die yogische Praxis ausgerichteten
Überlieferungen wird diese subtile Substanz subtile als Pferd bezeichnet,
auf dem der Geist reitet. Ist der Geist nicht beherrscht, dann läßt dieser
»Odem« sich nicht zähmen, und Zerstreuung bei der Meditation ist die
Folge. Während des Zwischenzustands nun ist diese Vitalität, dieser »Odem«
in seinem Drang nach neuer Verkörperung so ungebärdig geworden, daß der
Reiter, nämlich die Geist-Natur, taumelnd und schwankend fortgetragen
wird. Dieses Bild taucht an späterer Stelle noch einmal auf, nur mit dem
Unterschied, daß nun der Tote ermahnt wird, den Odem als Geist-Träger so
zu zügeln, wie man ein Pferd zügelt.
Wenn aber aufgrund des üblen Karmas es sein sollte, daß [der Tote], obwohl
ihm zur Einsicht verholfen wurde, er [die Wahrheit] nicht erkannte, rufe
man ihn bei seinem Namen und spreche:
“Sohn der Edlen, N. N., höre zu! Du mußt nun dieses Leid ertragen, weil
das deine eigenen Taten sind, sollst du dir drei Kostbarkeiten innig
anflehen. Dadurch wirst du geschützt. Doch auch wenn man nicht in dieser
Weise betet, nicht über das Große Siegel zu meditieren weiß, sich nicht
auf den göttlichen Yi—dam konzentriert, so wird zu dieser Zeit der
[mit einem selbst] gleichzeitig entstandene gute Genius alle vollbrachten
guten Taten sammeln und [dafür] weiße Steinchen vorzeigen. Und der
gleichzeitig [mit einem selbst] zur Welt gekommene böse Genius sammelt
ebenfalls alle verübten schlechten Taten und zeigt [dafür] schwarze
Steinchen vor. Zu dieser Zeit wirst du große Angst, Furcht und Entsetzen
haben und zittern, während du lügst: >Ich habe nichts Übles getan!< Da
aber spricht Yama (der Totengott): >Ich werde in den Spiegel deiner Taten
schauen!< Und da er in den Spiegel blickt, wird alles Gute und Üble im
Inneren des Spiegels klar und deutlich sichtbar, und so war auch deine
Lüge sinnlos. Darob wird Yama einen Strick dir uni den Hals winden und
dich daran fortziehen. Er wird dir den Hals abschneiden, das Herz
herausreißen, die Eingeweide [dir aus dem Leib] zerren, dein Hirn
auflecken, dein Blut trinken, dein Fleisch essen, ja sogar deine Knochen
benagen. Aber du kannst nicht sterben, obwohl du in Stücke gehackt wirst,
erstehst du wieder. Zwar wirst du immer wieder in Stücke gehackt und mußt
großes Leid erdulden, fürchte dich aber nicht, da die weißen Steinchen
gezählt werden, habe keine Angst, lüge nicht, ängstige dich nicht vor Yama,
denn da du ein Geist-Wesen bist, kannst du nicht wirklich sterben, obwohl
es geschehen kann, daß du geschlachtet und zerstückelt wirst. Da nämlich
deine Gestalt in Wahrheit aus Leere besteht, brauchst du nichts zu
fürchten. Denn die Erscheinung der verschiedenen Yama ist die Gestalt der
Illusion und der Leere. Dein Wesen, das aus den Neigungen [deiner früheren
Taten besteht], ist nämlich [auch] Leere, und so kann die Leere der Leere
nichts anhaben. Das Namenlose kann dem Namenlosen nichts anhaben.
Abgesehen von der eigenen trügerischen Sinneswahrnehmung gibt es in
Wahrheit nichts Äußeres wie Yama, Götter und Dämonen, stierköpfige
Rakshasa usw. Dies mußt du wahrlich erkennen. Daß nur darin die Gesamtheit
[aller Erscheinungen] des Zwischenzustands besteht, dies erkenne doch!
Versenke dich in die Betrachtung des Großen Siegels! Doch wenn du dich
darin nicht zu versenken weißt, dann schaue kritisch das Wesen dessen an,
der dir Anlaß zu Furcht und Schrecken ist: Du wirst nur erkennen können,
daß er leer ist an Wesen, wie immer dieses Wesen auch beschaffen sein mag,
und ein solches nicht verwirklicht hat. Dies nennt man den Zustand des
Wahren Seins. Aber diese Leere ist eine Leere, die gleichmäßig und
ununterbrochen sich [auf alle Daseinsphänomene] erstreckt; die schauende,
schimmernde Geist-Natur hegt den Gedanken: >Schrecklich ist das Wesen
dieser Leere!<, und eben darin besteht die Andacht an die Wesenheiten, die
im Zustand vollkommenen, spirituellen Mitteilens sind. Während Leere und
Transzendenz frei von oben und unten sind, ist das Wesen der Leere
transzendent, und das Wesen der Transzendenz ist leer. So sind
Transzendenz und Leere voneinander untrennbar, sie enthüllen die
Geist-Natur in ihrer Nacktheit und Blöße. Verharrt man jetzt in diesem
Zustand, der ungeschaffen ist, so nennt man es den Seinszustand der
eigentlichen Wesenheit. Und dessen ureigene Kraft erstrahlt ungehindert,
wo immer sie will: Dies ist der Zustand des wirkenden Seins.
Sohn der Edlen, höre ohne Zerstreuung zu! Erkenne dies wahrlich, und du
wirst gewiß die vollendete Erleuchtung der vier Seinsweisen erlangen! Sei
nicht zerstreut! Hier ist die Grenze zwischen Buddha und dem Lebewesen. Da
dieser Augenblick von so großer Wichtigkeit ist, wird – wenn man zu dieser
Zeit zerstreut ist — niemals die Zeit kommen, um aus dem Sumpf
fortwährenden Leides befreit zu werden.
>In einem einzigen Augenblick unterscheiden sie sich; in einem einzigen
Augenblick ist man vollendeter Buddha.<
So heißt es, und dies ist wahr!
Obwohl dir ausschließlich [die Erscheinungen] des Zwischenzustands
aufgegangen sind, konntest du [die Wahrheit] nicht erkennen, da du bis
jetzt immer zerstreut warst. Nur deshalb mußtest du auch diese Angst und
Furcht erleiden. Wenn du jetzt noch zerstreut bist, wird der Faden des
Mitleids zerreißen, und du wirst an einen Ort geraten, wo es keine Chance
zur Befreiung gibt. So nimm dich in acht!«
So verhelfe man [dem Toten] zur Einsicht, und auch wenn er vorher nicht
zur Erkenntnis gelangte, so wird er nun - nach dieser Anweisung — die
Befreiung erlangen. Ist [der Tote] ein Laie, der nicht zu meditieren weiß,
spreche man folgendes:
»Sohn der Edlen, wenn du jetzt nicht zu meditieren verstehst, dann
vergegenwärtige dir Buddha, den Dharma und die Gemeinde, sowie den Großen
Mitleidsvollen (Avalokiteshvara) und flehe sie inbrünstig an! Versenke
dich darin, daß der Große Mitleidsvolle oder dein eigener Yidam die
Gesamtheit dieser schrecklichen, furchtbaren Erscheinungen ist.
Vergegenwärtige dir deinen Lama und deinen geheimen Namen, den du in der
Menschenwelt erhieltest, als du um die tantrischen Weihen batest; ihn sage
dem Gesetzeskönig Yama. Auch wenn du in einen Abgrund fällst, wirst du
keinen Schaden nehmen, so gib daher Angst .und Furcht auf!«
Indem man so spricht, verhelfe man [dem Toten] zur Einsicht. Auch wenn er
vorher nicht befreit wurde, so wird er jetzt die Befreiung erlangen. Da es
jedoch sein könnte, daß er [auch jetzt] noch nicht zu Einsicht gelangt und
nicht die Befreiung erreicht hat, und da dies außerordentlich wichtig ist,
soll man den Toten erneut hei seinem Namen rufen und ihn so anreden:
»Sohn der Edlen, deine jetzigen Sinneseindrücke sind nur jeweils einen
Augenblick lang glücklich und leidvoll, so kommt es, daß du in große
Verzweiflung stürzt, gleich wie von Schleudermaschinen geworfen. So lasse
jetzt überhaupt keine Empfindungen des Begehrens oder des Ablehnens in dir
aufkommen. Wenn du in himmlischen Welten geboren werden sollst, dann
werden zur Zeit, da dir Erscheinungen der himmlischen Welten aufgehen,
deine zurückgebliebenen Nächsten das Leben vieler Lebewesen als Opfer
darbringen. Darüber werden dir unreine Erscheinungen begegnen, und du
wirst großen Haß verspüren. Im Gefolge davon wirst du in der Hölle
wiedergeboren werden. Was immer auch die Hinterbliebenen tun mögen,
empfinde keinen Haß darüber, sondern versenke dich in die
Liebes-Meditation! Sollst du noch an den von dir hinterlassenen
Reichtümern haften oder deine Hinterbliebenen hassen, da sie deine
Reichtümer [zu besitzen] erstreben, obwohl sie wissen, daß deine
Reichtümer anderen überantwortet wurden und nun von diesen genossen
werden, dann wirst du in der Folge gewiß in der Hölle oder bei den
Hungergeistern wiedergeboren werden, auch wenn du in besseren Welten
hättest wiedergeboren werden können. Doch selbst wenn du an deinen
zurückgelassenen Reichtümern hängst, kannst du sie doch nicht erlangen,
und du kannst sie nicht nutzen. Deshalb gib auf, nach deinen
hinterlassenen Reichtümern zu gieren, wirf sie insgesamt hinter dich!
Beruhige dich! Wer immer es auch sein mag, der deine Reichtümer nutzt, sei
ihm nicht neidig, sondern verzichte darauf! Verharre vielmehr in einem
Zustand ohne Begehren und ohne Anhaften, indem du dich ganz auf den
Gedanken konzentrierst, [deine Reichtümer] deinem Lama und den Drei
Kostbarkeiten darzubringen. Auch wenn zu deinem Nutzen die Totenrituale,
wie Kamkani und >Läuterung der üblen Lebensbereiche< usw., rezitiert und
ausgeführt werden, so wirst du doch mit deinem subtilen, übernatürlichen
Wissen, [das eine Folge] deines Karma [ist], sehen, daß diese unecht,
träge, zerstreut usw. ausgeführt werden, daß keine Neigung besteht, [die
aus den Ritualen sich ergebenden] Gelübde rein zu bewahren. Du wirst dabei
sehen, wie Unglaube und irrige Ansichten erwachsen, böse Taten, die in
Angst und Schrecken [wurzeln], und wie unecht die Praxis der Religion und
die Kulthandlungen [vollzogen werden]. Da wirst du denken:
>Wehe, diese [Leute] betrügen mich! Offensichtlich betrügen sie mich!< Und
bei diesem Gedanken wirst du betrübt, und dein Herz verliert seine Freude.
Dabei entstehen keine Visionen voll Hingabe und Verehrung mehr, sondern
Irrtümer und Mißtrauen [gegenüber der Religion], und als Folge davon wirst
du gewiß in eine schlechte Existenz geraten. Hierbei ist nun der Schaden
größer als der Nutzen. Deshalb denke, wie unecht auch die von den
zurückgebliebenen Geistlichen ausgeführten Zeremonien sein mögen, daß das
Unechte an deinen Wahrnehmungen die Befleckungen deines Karma sind, das
gleichsam in einem Spiegel reflektiert wird, denn wie könnte Unechtes an
den Worten Buddhas sein? [Bedenke, daß] durch die unreine Kraft deiner
eigenen Wahrnehmungen solches geschieht. So bete voll Ehrfurcht: >Da ihre
Gestalten das Wesen der Gemeinde bilden, ihre Worte das Wesen des edlen
Dharma sind und ihre Gedanken das Wesen des Buddha, nehme ich Zuflucht zu
ihnen!< So bete voll Ehrfurcht und habe von Grund auf Vertrauen zu ihnen.
Damit wird alles, was deine Hinterbliebenen tun, dir zum Nutzen gereichen.
Es ist deshalb sehr wichtig, diese Vorstellung zu haben, so vergiß es
nicht!
Auch wenn du in einem der drei üblen Daseinsbereiche geboren werden
sollst, deine hinterbliebenen Nächsten aber just zu der Zeit, da dir die
Erscheinungen der üblen Daseinsbereiche aufgehen, gutem lichten und
religiösen Wandel obliegen, ohne jedes Fehl, und die Lamas und Meister mit
ihrem Leib, ihrer Stimme und ihrem Herzen gute religiöse Handlungen
ausführen, wirst du, sobald du dies siehst, hoch erfreut sein. Als sichere
Folge davon wirst du in besseren Welten wiedergeboren werden, auch wenn du
in einem der drei üblen Daseinsbereiche geboren werden solltest, denn von
solch veränderndem Nutzen ist [diese Geisteshaltung]. Deshalb ist es sehr
wichtig, daß du unreine Vorstellungen meidest und ohne Einschränkung voll
Ehrfurcht und Hingabe bist, so nimm dich in acht!
Sohn der Edlen, kurz gesagt, jetzt im Zwischenzustand ist deine
Geist-Natur ohne [materielle] Stütze, so entwickeln die guten und bösen
Wahrnehmungen, welche immer auch erscheinen, auf dieser schwankenden
Grundlage eine große Kraft. Denke deshalb überhaupt nicht über deine üblen
Taten nach, sondern vergegenwärtige dir, was du an Gutem getan hast. Hast
du aber nichts Gutes getan, dann befleißige dich inniger Hingabe und
reiner Gedanken. Bete zu deinem göttlichen Yi-dam und zum Großen
Mitleidsvollen (Avalokiteshara). Ganz gesammelt sprich dieses Gebet:
>Wehe, getrennt von lieben Freunden muß ich allein umherirren. Leere
Gestalten steigen mir als meine eigenen Gedanken auf. Mögen die Buddhas
die Kraft ihres Mitleids aussenden, so daß die Schrecken des
Zwischenzustands, Furcht und Angst nicht entstehen!
Wenn ich durch meine üblen Taten Leid erdulden muß, möge mein göttlicher Yi-dam dies Leid von mir nehmen! Wenn der tausendfache Donnerschall
des Wahren Seins ertönt, möge es zum Ton des sechssilbigen Mantras werden!
Jetzt, da ich ohne Zuflucht nur meinen früheren Taten nachfolgen muß,
flehe ich den großen Mitleidsvollen Herrn um Hilfe an.
Jetzt, da ich die üblen Neigungen, die meinen früheren Taten innewohnten,
als Leid erdulde, möge mir doch die glückselige Versenkung des Urlichts
aufgehen!<
Mit diesen Worten bete inbrünstig! Es ist sicher, daß du den rechten Weg
geleitet wirst. Sei versichert, daß es kein Trug ist. Es ist deshalb ganz
außerordentlich wichtig!«
Da man so gesprochen hat, wird [der Tote sich das Gesagte]
vergegenwärtigen, es beherzigen und so die Befreiung erlangen. Auch wenn
man so viele Male verfährt, ist es aufgrund der Kraft der üblen Taten
schwer, die Wahrheit zu erkennen. Deshalb ist es sehr nützlich, wenn man
es mehrfach wiederholt.
Kommentar.
Zwei Methoden empfiehlt das Bardo-thödol denen, die sich nicht zu
sammeln wissen, für die alle bisherigen Anweisungen nutzlos geblieben
sind: 1. das Ausrichten der Gedanken auf Avalokiteshvara und 2. die
Liebesmeditation. Avalokiteshvara ist als einer der großen Bodhisattvas
voll Mitleid mit den leidenden Wesen. Vor einem der Buddhas der Vorzeit
schwor er freilich, daß er jedem Lebewesen, das leidet und seinen Namen
voll Glauben und Vertrauen ausspricht, hilfreich zur Seite stehen wird.
Aus diesem Grund nutzt der Tibeter jede freie Minute, um den Rosenkranz
zur Hand zu nehmen und den mächtigen Bodhisattva mit der Anrufung Om mani
padme hum, sich zu vergegenwärtigen. So wurde es einem ganzen Volk zur
Gewohnheit, wann immer es etwas Schreckliches sieht oder hört, eben den
Bodhisattva Avalokiteshvara mit diesem Stoßgebet zum Nutzen des Bedrängten
anzuflehen. Diese Übung ist jedem Tibeter so vertraut, daß er sie auch in
den äußersten Schrecken des Zwischenzustands noch ausführen kann. Die
zweite Übung ist damit eng verknüpft: Man konzentriert sich auf alle
Lebewesen, wünscht ihnen, daß sie »im Besitze von Glück, frei von Leid, im
Besitze von leidfreiem Glück und im Zustand des Gleichmuts« sich befinden
mögen. Auch dieses Gebet findet sich in den täglichen Gebeten eines jeden
Tibeters, mag er nun ein ganz einfacher Mensch oder ein großer Lama sein.
Durch diese beiden Übungen wird der Geist des Verstorbenen oder des
Übenden frei von allen negativen, zerstörerischen Empfindungen. So schaut
er durch die menschlichen Unvollkommenheiten bei den Ausführungen der
Totenrituale hindurch, ohne sich daran zu stoßen.
Wenn weiter unten gesagt wird, daß der Tote sich nicht erzürnen soll, wenn
die Hinterbliebenen Tiere schlachten, so mag man darin einen Hinweis
sehen, daß zur Zeit der Abfassung unseres Textes hie und da noch die
unbuddhistische Sitte der Tieropfer bestand. Die heutige tibetische
Tradition legt die Stelle etwas anders aus: Um die Totenzeremonien
abzuhalten, kommen viele Lama und Mönche ins Haus der Familie; zur
Bewirtung dieser geehrten Gäste könnte ein Schaf geschlachtet werden.
In dieser Phase des Zwischenzustands wird es immer wichtiger, daß der
Verstorbene nur gute und erbauliche Gedanken liegt. Er darf die
vorhandenen Fehler nicht sehen, sondern miß durch ihre äußere brüchige
Hülle hindurchsehen, um darin das Leuchten der Leere, des Ungeschaffenen
zu sehen. Auch diese Geisteshaltung wird von den Tibetern ein Lehen lang
trainiert. Sie mag dem westlichen Menschen als naive Kritiklosigkeit
erscheinen, doch ist es eine alte Erfahrung der Menschheit, daß der Mensch
zu dem wird, was er in Wahrheit erkennt. Je mehr der Mensch sich also auf
Kritik und Hader einläßt, um so mehr wird er ein Wesen des Streites. Die
Bewußtmachung von Konflikten ist nach der Lehre des Buddha kein Weg, um
sie zu überwinden. Gerade alle tantrischen Überlieferungen versuchen das
Unreine ins Reine zu verwandeln. Im Rahmen der Besprechung der Pentade der
Buddhas (einleitender Kommentar zu Teil II) wurde darauf bereits
eingegangen.
Wieder rufe man den Toten beim Namen und spreche:
»Sohn der Edlen, wenn du das, was dir vorher vor Augen geführt wurde,
nicht begriffen hast, dann wird von jetzt an dein früherer Körper
undeutlich, und dein zukünftiger Körper wird deutlich werden. Darob wirst
du dich elend fühlen, und du wirst denken: >Was auch für ein Körper
entstehen mag, ich werde ihn zu erlangen suchen, da ich doch so leide.<
Und wo einer entsteht, da gehst du hin und her, dahin und dorthin. Dabei
gehen dir die sechs Lichter der sechs Daseinsbereiche auf. Wo du durch
deine früheren Taten geboren wirst, dort leuchtet es am stärksten.
Sohn der Edlen, so höre! Was sind diese sechs Lichter? Das weiße,
strahlenlose Licht der Götter wird dir aufgehen und ebenso das rote Licht
der Asura, das blaue Licht der Menschen, das grüne Licht der Tiere, das
gelbe Licht der Hungergeister und das rauchige, strahlenlose Licht der
Höllenwesen. Diese sechs Lichter werden entstehen. Auch dein Körper wird
die Farbe haben, die das Licht [jenes Ortes] hat, an dem du geboren werden
wirst.
Sohn der Edlen, weil dies die Quintessenz der Unterweisung zu diesem
Zeitpunkt ist, darum meditiere über das Licht, welches auch immer
erscheint, als den Großen Mitleidsvollen. Zur Zeit, da dies Licht
erscheint, versenke dich hinein und betrachte es als den Großen
Mitleidsvollen. Dies ist von tiefer Bedeutung und äußerster Wichtigkeit,
denn damit wird die Wiedergeburt verhindert. Meditiere ferner für lange
Zeit über deinen jeweiligen göttlichen Yi-dam, wie über eine Fata
Morgana, eine Erscheinung ohne Wesen, wird er doch eine reine Gestalt der
Halluzination genannt. Darauf schwindet [die Gestalt] des Yi-damYi-dam
und wieder über das Licht. So meditiere abwechselnd, und in der Folge laß
nicht deine Geist-Natur von den äußeren Umrissen her hinschwinden. So weit
der Himmel sich erstreckt, so weit erstreckt sich die Geist-Natur. So weit
sich die geistige Natur erstreckt, so weit erstreckt sich das Wesen des
Wahren Seins. Gelassen verharre in dem Zustand des Wahren Seins, der frei
von einem Ich und ohne Voreingenommenheit ist. Aus diesem Zustand heraus
wird die Wiedergeburt verhindert, und du wirst ein Buddha.«
Diejenigen, die ganz wenig spirituelle Übung haben und in der Meditation
unerfahren sind, werden dies nicht begreifen und daher in Verwirrung
geraten und durch die Pforte des Schoßes gehen müssen. Deshalb ist die
Unterweisung, um die Pforte des Schoßes zu schließen, so bedeutsam, und so
rufe man den Toten bei seinem Namen und spreche:
»Sohn der Edlen, wenn du vorher [die Wahrheit] nicht erfaßt hast, dann
wird es dir scheinen, als ob du nach oben gingst, geradeaus oder kopfüber
nach unten gingst. Zu dieser Zeit meditiere über den Großen
Mitleidsvollen, als wäre er du selbst. Vergegenwärtige dir dies! Dann
werden dir Erscheinungen aufgehen, die schon vorher beschrieben wurden:
heftige Stürme, Schnee, Hagel, Finsternis und [das Gefühl], als ob viele
Menschen hinter dir herjagten und du liefest davon. Die kein Verdienst
haben, denen wird es scheinen, als ob sie an einen elenden Ort liefen. Die
Verdienst haben, denen wird es scheinen, als ob sie an einem glücklichen
Ort ankämen. Eben zu dieser Zeit, o Sohn der Edlen, da werden dir alle
Anzeichen des Kontinents und des Ortes, wo du geboren werden wirst,
erscheinen. Da es für diese Zeit viele Unterweisungen von äußerst tiefem
Inhalt gibt, höre, ohne zerstreut zu sein, zu! Auch wenn du — obwohl ich
dir vorher zur Einsicht verhelfen wollte — diese [Unterweisung] nicht
begriffen hast, so wirst du sie trotz dieser ganz geringen spirituellen
Übung jetzt gewiß begreifen, so höre also!
Es ist wichtig, daß du nun gut achtgibst, auf welche Weise die Pforte des
Schoßes zu schließen ist. Es gibt zwei Methoden: Entweder man hindert das
Lebewesen daran, in die [Pforte des Schoßes] einzugehen, oder man schließt
diesen, den [der Tote] betreten will.«
Nun die Unterweisung, um das Lebewesen, das [die Pforte des Schoßes]
betreten will, davon abzuhalten:
»Sohn der Edlen, N. N., bringe den ganz klar zur Entfaltung, den du zum
Yi-dam gemacht hast, der ohne substantielles Sein ist, obwohl er [dir]
erscheint — wie eine Halluzination und wie das [Spiegelbild] des Mondes im
Wasser. Wenn du keinen bestimmten Yi-dam hast, dann meditiere ganz
klar in dem Gedanken: >Dies ist die Natur des Herrn des Großen Mitleids.<
Danach lasse den Yi-dam von seinen äußeren Umrissen her schwinden
und betrachte das überhaupt nicht wahrnehmbare Urlicht als leer. Dies ist
von tiefer Bedeutung. Da es heißt, damit trete man nicht in in den Schoß
ein, meditiere darüber!
Wenn man es jedoch dadurch nicht verhindern kann und man dabei ist, in den
Schoß einzutreten, dann gibt es die tiefgründige Unterweisung, um die
Pforte des Schoßes, in die man eintreten soll, zu schließen. So höre!
Sprich mir nach, was in den Grundlegenden Worten für den
Zwischenzustand steht:
>Wehe! Hier wandere ich nun im Zwischenzustand des Werdens. Da ich meinen
Geist auf einen Punkt gesammelt und konzentriert habe, dehne ich voll
Eifer die Wirkung meiner guten Taten aus. Da die Pforte des Schoßes
verschlossen ist, sei gewärtig, daß du umkehren mußt. Dies ist die Zeit,
da Herzensstärke und reines Vertrauen vonnöten sind. Gib die Eifersucht
auf und meditiere über deinen Lama, wie er vereint mit der göttlichen
Mutter ist.«
Da man diese Worte klar formuliert, ruft man sie [dem Toten] ins
Gedächtnis. Es ist sehr bedeutsam, den Sinn [dieser Worte] zu betrachten
und danach zu handeln. Dies ist ihr Sinn: »>Hier wandere ich nun im
Zwischenzustand des Werdens!< Du bist nun einer, der im Zwischenzustand
des Werdens wandern muß. Die Anzeichen dafür sind, daß du [das
Spiegelbild] deines Gesichtes nicht sehen kannst, sobald du ins Wasser
schaust, und daß dein Körper ohne Schatten ist. Dies ist eben das Zeichen,
daß du ohne einen materiellen Körper von Fleisch und Blut im
Zwischenzustand des Werdens als Geist-Wesen wandern mußt. Jetzt mußt du
ganz gesammelt und ohne Zerstreuung deinen Geist festhalten. Jetzt ist das
völlige Gesammeltsein allein von größter Wichtigkeit. So wie man ein Pferd
mit dem Zügel lenkt, [so willig muß dein Geist nun sein]. Da nun das
geschehen wird, worauf du dich konzentrierst, darfst du keinen Gedanken an
üble Taten aufsteigen lassen. Erinnere dich vielmehr der Religion, der
Unterweisung, der Weihen und der Überlieferungen solcher Texte wie Die
Befreiung durch Hören im Zwischenzustand usw. Mit Eifer dehne die
Auswirkung deiner guten Taten aus. Das ist wichtig, vergiß es nicht, sei
nicht zerstreut! Dies ist nun der Scheidepunkt, da es aufwärts oder
abwärts geht. Fällst du in Nachlässigkeit, so ist jetzt die Zeit, da du
ganz sicher ins Leid gerätst. Hältst du aber in völliger Sammlung aus, so
ist jetzt die Zeit, da du ganz sicher ins Glück gehst. Halte deinen Geist
in völliger Sammlung! Dehne voll Eifer die Ausstrahlung deiner guten Taten
aus. Denn es heißt:
>Die Zeit zum Schließen der Pforte des Schoßes ist gekommen! Da die Pforte
des Schoßes geschlossen ist, vergegenwärtige dir doch, daß du nun
umkehrst. Dies ist die Zeit der Herzensstärke und des reinen Vertrauens.<
Und diese Zeit ist jetzt gekommen. Zuerst gilt es, die Pforte des Schoßes
zu schließen. Ferner gibt es fünf Aspekte der Methode des Schließens,
deshalb präge sie dir gut ein!
Sohn der Edlen, zu dieser Zeit werden dir Erscheinungen aufsteigen, als ob
sich Männer und Frauen in Leidenschaft vereinten. Da du sie erblickst,
tritt nicht zwischen sie, sondern vergegenwärtige dir [die Unterweisung]
und meditiere über diese männlichen und weiblichen Paare als deinen Lama
und die heilige Mutter. So verehre sie und bringe ihnen im Geiste Opfer
dar! Nur indem du dein Denken ganz darauf sammelst, sie mit tiefer Hingabe
und Inbrunst um Unterweisung zu bitten, wirst du die Pforte des Schoßes
verschließen. Wenn du sie dadurch jedoch nicht verschließen kannst und du
dabei bist, in den Schoß einzutreten, dann meditiere über deinen Lama und
die heilige Mutter, deinen Yi-dam und was sonst angängig ist, als
den Großen Mitleidsvollen, deinen [wahren] Yi-dam und opfere ihm im
Geiste. Voll Inbrunst denke, daß du sie bittest, dich zur Vollendung zu
führen. Damit wird die Pforte des Schoßes verschlossen.
Wenn du sie damit aber nicht verschließen konntest und dabei bist, in den
Schoß einzutreten, dann zeige ich dir als drittes die Methode, Begehren
und Haß abzuweisen. Es gibt vier Arten von Geburt: 1. die Geburt aus dem
Ei; 2. die Geburt aus dem Schoß; 3. die Geburt aufgrund eines Wunders; 4.
die Geburt aus Hitze und Feuchtigkeit. Unter ihnen stimmen die Geburt aus
dem Ei und die aus dem Mutterschoß in ihren Merkmalen überein. Wie oben
gesagt, wirst du Männer und Frauen in leidenschaftlicher Vereinigung
erblicken. Zu dieser Zeit wirst du kraft deines Begehrens und deines
Hasses in den Schoß eingehen, und du kannst als Pferd, Vogel, Hund, Mensch
oder ähnliches geboren werden. Sollst du als Mann wiedergeboren werden,
dann wirst du dir selbst als männlich erscheinen und gegenüber deinem
Vater heftige Ablehnung empfinden, und es dünkt dich, als ob du gegenüber
deiner Mutter Eifersucht und Leidenschaft empfändest. Sollst du aber als
Frau geboren werden, dann wirst du dir selbst als weiblich erscheinen, und
du wirst Neid und Eifersucht gegen deine Mutter empfinden, und für deinen
Vater wirst du Begehren und Leidenschaft fühlen. Unter diesen
Begleitumständen trittst du in den Mutterschoß ein, und just, da sich die
weiße und rote Essenz vereinen, da erfährst du die inständige Freude des
Werdens. In diesem Zustand fällt dein Bewußtsein in Ohnmacht; als
stehende, [erst] dünnflüssige, [dann] dickflüssige Substanz reift der
Körper, und wenn er den Mutterschoß verläßt, die Augen öffnet, dann
findest du dich als alleinstehendes Junges. Warst du zuerst ein Mensch, so
bist du nun ein Hund geworden und leidest in einem Hundezwinger oder — in
entsprechender Weise — in einem Schweinestall oder in einem Ameisenhaufen
oder in einem Fliegennest. Oder du wirst als Kalb oder Zicklein oder
Lämmchen geboren. Einen Weg zurück gibt es nicht. In Stumpfheit und
Nichtwissen wirst du verschiedenartigstes Leid erdulden müssen. So wirst
du unter den Sechs Daseinsbereichen wie Höllenwesen und Hungergeister
umherirren und unendliches Leid erdulden müssen. Keine Kraft ist größer
als diese, keine Furcht und kein Schrecken ist größer als dieser. Wehe,
wie furchtbar! Wehe, wehe! Die ohne Unterweisung eines Lama sind, werden
damit in den gähnenden Abgrund der Wandelwelt fallen, und sie werden
unentwegt von unerträglichem Leid gequält werden. So präge dir meine
Unterweisung ein! Ich werde dich eine Unterweisung lehren, [so daß] du
sagen kannst: >Da ich Begehren und Haß aufgegeben habe, schließe ich die
Pforte des Schoßes!< Höre also und präge es dir ein!
Ferner, da du die Pforte des Schoßes geschlossen hast, vergegenwärtige
dir, daß du nun umkehren mußt! Jetzt ist die Zeit, da Herzensstärke und
reiner Glaube nottut. Gib die Eifersucht auf und meditiere über den Lama
als vereint mit der göttlichen Mutter!
Da es so heißt, wirst du wie vorher die Mutter begehren und den Vater
hassen, wenn du als ein männliches Wesen geboren wirst. Und wenn du als
ein weibliches Wesen geboren wirst, so wirst du den Vater begehren und die
Mutter hassen. Es wird dir sein, als ob du Eifersucht empfändest. Für
diese Zeit gibt es eine tiefe Unterweisung:
Sohn der Edlen, zu der Zeit, da dir in dieser Weise Haß und Begehren
entsteht, meditiere so:
>Wehe, die Lebewesen, die wie ich durch solch schlechte Taten schon früher
in der Wandelwelt umherirrten, irren auch nun darin umher, da sie
Begehrlichkeit und Haß empfinden.< Wenn man noch in dieser Weise begehrt
und haßt, dann wird man ohne Ende in der Wandelwelt umherirren müssen, und
es besteht die Gefahr, für lange Zeit in dem Ozean des Leides zu
versinken. Deshalb soll man von Grund auf weder begehren noch hassen.
>Wehe! Niemals will ich fortan begehren oder hassen<, dies präge man voll
Sammlung fest seinem Geist ein. In den Tantras heißt es, daß damit die
Pforte des Schoßes verschlossen wird.
O Sohn der Edlen, sei nicht zerstreut, nimm deinen Geist in voller
Konzentration zusammen! Wenn du bisher die Pforte des Schoßes nicht
verschließen konntest und dabei bist, in den Schoß einzutreten, dann mußt
du die Pforte des Schoßes mit dieser Unterweisung schließen, daß nämlich
in Wahrheit nichts ein Sein hat [nichts ist], sondern eine Halluzination
ist. In dieser Art meditiere:
>Wehe, Vater und Mutter, Regengüsse, Sturmböen, das Heulen, all diese
Erscheinungen des Schreckens und der Furcht, die aufgehen, all diese
Phänomene haben kein substantielles Sein, sondern gleichen einer
Halluzination. Obwohl man sie wahrnimmt, kommt ihnen in Wahrheit kein Sein
zu. Alle Phänomene sind in Wahrheit ohne Sein und [nur] ein Trug, eine
optische Täuschung, sie sind nicht ewig oder beständig. Warum begehrt man
sie? Warum hat man Furcht und Angst vor ihnen? Das Nicht-Existente sehe
ich als existent, und doch ist alles nur eine Erscheinung des eigenen
Geistes. Der Geist selbst ist eben wie eine Halluzination, seit Anfang
ohne Sein. Wie sollte es da von außen herkommen? Da ich früher dergleichen
nicht erkannt habe, hielt ich das Nichtexistente für existent, das
Nichtwahre für wahr. Da ich das, was einer Halluzination gleicht, für wahr
ansah, bin ich seit wie langer Zeit doch in der Wandelwelt umhergeirrt.
Und wenn ich immer noch nicht [die Wahrheit] als Halluzination erkenne,
dann muß ich weiterhin in der Wandelwelt umherirren, und gewiß gerate ich
in den Sumpf mancherlei Leides. Dies alles ist wie ein Traum, eine
Halluzination, ein Echo, die Stadt der Gandharven, eine Fata Morgana, ein
Spiegelbild, eine optische Täuschung, das [Spiegelbild des] Mondes im
Wasser. Nicht für einen Augenblick kommt ihnen in Wahrheit ein Sein zu.
Gewiß, erfaßt man mit Sammlung, daß [die Phänomene] in Wahrheit nicht
seiend sind, sondern Trug, dann wird das Festhalten an einem Sein
aufgelöst. Prägt man dieses seinem Geist tief ein, dann wird das
Festhalten an einem Ich beendet.<
Wenn man es so von ganzem Herzen als Trug erkennt, wird die Pforte des
Schoßes sicher verschlossen. Wird aber das Festhalten am Ich nicht
aufgelöst, obwohl man so getan hat, und ist die Pforte des Schoßes nicht
verschlossen worden und ist man dabei, in den Schoß einzutreten, dann gibt
es hierfür doch [noch] eine tiefe Unterweisung:
Sohn der Edlen, wenn du die Pforte des Schoßes nicht verschließen
konntest, obwohl du so getan hast, dann sollst du als fünftes über das
Licht meditieren und damit die Pforte des Schoßes schließen. Die Art und
Weise dieser Meditation ist folgendermaßen auszuführen: >Alle Phänomene
bestehen im Geist. Dieser Geist ist frei vom Werden und Vergehen, er ist
die Leere.< Indem man so denkt, lasse man den Geist unbeeinflußt. So wie
das Wasser im Wasser ruht, so ruhe der Geist in sich selbst, allein auf
sein Wesen ausgerichtet, gelöst in seinem Dasein, entspannt, gelassen. Da
[der Geist] unbeeinflußt, gelöst verharrt, wird ganz bestimm und sicher
der Zugang zur Pforte des Schoßes bei allen vier Arten der Geburt
verschlossen. So meditiere immer wieder, solange [die Pforte des Schoßes]
noch nicht verschlossen ist.«
Kommentar:
Nun versucht der Lama ein letztes Mal, den Geist des Toten doch noch zur
Einsicht zu bringen. Den Toten drängt es mit größerer Macht zur
Wiederverkörperung. Die fünf Methoden, die nun gelehrt werden, beinhalten
an sich keine unbekannten Elemente mehr: Der Tote soll sich auf seinen
Yi-dam konzentrieren; die in sexueller Einigung geschauten Paare soll
er als seinen Lama und die heilige Mutter betrachten; Haß und Begehren muß
er aufgeben; in Wahrheit hat nichts ein Sein; der Geist ist blanke Leere,
ist Licht.
Die Schilderung der embryonalen Phase folgt den klassischen indischen
Vorstellungen. Danach wird nicht die Gestalt des Embryo beschrieben,
sondern die Konsistenz seines Körpers (Dünnflüssigkeit, Dickflüssigkeit)
festgehalten. Es schien mir nicht gerechtfertigt, diese Vorstellung gegen
die im Westen übliche auszutauschen und damit den ursprünglichen Inhalt
des Textes zu verändern.
Ähnliches gilt für die Schilderung der verschiedenen Kontinente, in die
der Tote bei der Suche nach einem neuen Körper eintreten mag. Es sind dies
nicht die Kontinente, wie sie um Westen bekannt sind, sondern
Welten-Kontinente, die durch ringförmige Meere voneinander getrennt sind.
Zum Verständnis des Bardo-thödol ist es nicht nötig, hierbei länger
zu verweilen. Man muß sich nur vor Augen halten, daß dies Elemente sind,
die dem Weltbild des klassischen Indiens angehören. (Vgl. dazu: W. Kirfel:
Die Kosmographie der Inder, Bonn 1920.)
Bis jetzt sind viele wahre und tiefe Unterweisungen zum Schließen der
Pforte des Schoßes vorgekommen. So ist es nicht möglich, daß irgendein
Lebewesen, habe es beste, mittelmäßige oder beschränkte geistige
Fähigkeiten, nicht befreit würde. Warum ist das so? 1. Da [das Lebewesen]
im Zwischenzustand über ein unbeschränktes Hellsehen verfügt, kann es
alles hören, was ich sage. 2. Auch wenn es [vorher] blind und taub war, so
verfügt es jetzt doch über alle Sinnesfähigkeiten und kann daher
verstehen, was ich sage. 3. Da es beständig von Furcht und Schrecken
gejagt wird, achtet es ohne Zerstreuung der Gedanken darauf, was als
Bestes [zu tun] sei. Deshalb hört es alles, was ich sage. 4. Da sein
Bewußtsein ohne [materielle] Stütze ist, kann es ungehindert dorthin
gelangen, wo es zu sein beabsichtigt, und so ist es leicht lenkbar. Da
seine Achtsamkeit neunmal schärfer ist, so ist jetzt aufgrund seiner
früheren Taten seine Geist-Natur viel klarer geworden, auch wenn [das
Lebewesen] vorher dumm war. Daher hat es die Fähigkeit, all das zu
betrachten, wozu es ermahnt wird. Dies sind die wesentlichen Gründe dafür.
Aus diesen Gründen ist es gut, wenn man die Totenzeremonien ausführt.
Deshalb ist es von größter Wichtigkeit, während der neunundvierzig Tage
des Zwischenzustands die Große Befreiung durch Hören im Zwischenzustand
eifrig zu lesen. Auch wenn der Tote durch die eine Anleitung nicht befreit
wird, so kann er doch durch eine andere die Befreiung erlangen. Dies ist
der Grund, warum es mehr als nur einer einzigen Anleitung bedarf.
Es gibt viele Gruppen, die — obwohl sie die vorausgegangenen Anleitungen
zur Einsicht gehört und so viele Erscheinungen erfahren haben — doch nicht
die Befreiung erlangten, da sie nämlich kaum das Gute zu tun gewöhnt
waren, sondern seit undenklichen Zeiten eine starke Neigung haben, das
Üble zu tun, aufgrund der Schwere und Tiefe ihrer Verblendungen. Wenn
deshalb diese die Pforte des Schoßes vorher nicht schließen konnten, dann
will ich sie von nun an eine tiefe Unterweisung zum Schließen der Pforte
des Schoßes lehren. Man flehe die Buddhas und Bodhisattvas um Hilfe an und
nehme zu ihnen Zuflucht. Wiederum rufe man den Toten dreimal bei seinem
Namen und spreche:
»O Sohn der Edlen, der Tote N. N., so höre! Obwohl ich dich vorher gemäß
der Unterweisung zur Einsicht anleitete, hast du sie nicht verstanden.
Wenn du nun den Mutterschoß nicht verschließen kannst, dann ist wirklich
die Zeit da, da du einen [neuen] Körper ergreifen wirst. Deshalb gibt es
mehr als eine einzige echte und tiefe Unterweisung zum Schließen der
Pforte des Schoßes. Vergegenwärtige sie dir, sei nicht zerstreut, sondern
höre mit gesammelten Sinnen zu und präge sie dir ein!
Sohn der Edlen, erkenne doch, daß nun die Zeichen und Merkmale erscheinen,
in welchem Kontinent du geboren werden wirst. So unterscheide, wo du
geboren werden wirst und wähle [mit Bedacht] den Kontinent aus! Wenn du im
östlichen Kontinent Purvavideha geboren werden wirst, siehst du einen See
mit einem Schwanenpaar. Dort gehe nicht hin, sondern vergegenwärtige dir,
daß du umkehren mußt! Denn wenn du dort geboren wirst, wirst du zwar Glück
und Freude im Überfluß genießen, aber da in diesem Kontinent der Dharma
nicht verbreitet ist, sollst du dort nicht eintreten. Wenn du im südlichen
Kontinent Jambudvipa geboren werden wirst, wirst du reizvolle Paläste
sehen. Wenn du [in ein neues Dasein] eintreten mußt, dann tritt hier ein.
Wenn du im westlichen Kontinent Aparagodaniya geboren werden wirst, wirst
du einen See mit einer Stute und einem Hengst sehen. Auch dorthin gehe
nicht, kehre um! Da auch dies ein Kontinent ist, in dem zwar großer
Wohlstand herrscht, aber der Dharma nicht verbreitet ist, sollst du dort
nicht eintreten. Wenn du im nördlichen Kontinent Uttarakuru geboren werden
sollst, dann wirst du einen See mit Rindern sehen oder einen See mit Wald
umgeben. Dies erkenne als die Zeichen, daß du dort geboren wirst! Dort
tritt aber nicht ein. Obwohl dort langes Leben und Wohlergehen herrschen,
ist der Dharma dort nicht verbreitet, so tritt also nicht ein. Wenn du als
Gott geboren werden wirst, wirst du reizvolle Tempel sehen, die aus
verschiedenen Edelsteinen errichtet sind. Wenn es dir möglich ist, dort
einzutreten, dann tritt ein! Wenn du als Asura geboren werden sollst, dann
wirst du einen lieblichen Hain und etwas wie einen Feuerkreis erblicken.
Dort tritt keinesfalls ein, sondern denke daran, daß du umkehren mußt!
Wenn du als Tier geboren werden sollst, siehst du Höhlen und Schluchten
wie im dichten Nebel. Auch hier tritt nicht ein! Wenn du als Hungergeist
geboren werden wirst, siehst du Holzstücke, schwarz Aufragendes,
eingestürzte Höhlen und schwarz Hingebreitetes. Gerätst du dorthin, bist
du als Hungergeist geboren. Da du gar vielerlei Leid durch Hunger und
Durst wirst erdulden müssen, gehe dort keinesfalls hin, sondern
vergegenwärtige dir, daß du umkehren mußt! Fasse dir ein Herz! Wenn du als
Höllenwesen geboren werden wirst, hörst du durch deine früheren üblen
Taten Lieder und Gesänge, doch machtlos bist du genötigt, dorthin zu
gehen, oder dir scheint es, als ob du finstere Gegenden, schwarze Häuser
oder rote Häuser oder schwarze Erdlöcher oder schwarze Wege betreten
würdest. Wenn du dorthin gehst, bist du in die Hölle geraten. Durch Hitze
und Kälte wirst du unerträgliches Leid erdulden müssen, und du hast keine
Möglichkeit, dem zu entkommen. Deshalb darfst du nicht unter diese Dinge
gehen, keinesfalls darfst du dort hineingeraten, gib acht darauf! Da du
die Pforte des Schoßes verschlossen hast, sei dir gewärtig, daß du
umkehren mußt; so heißt es, und jetzt ist die Zeit gekommen, da dies
nottut.
Sohn der Edlen, obgleich du nicht gehen willst, wirst du machtlos von
hinten durch Folterknechte, nämlich deine [üblen] Taten, gehetzt.
Ohnmächtig, nicht dorthin zu gehen, mußt du doch gehen. Von vorne zerren
dich Folter-knechte und Henker, und dir scheint es, als ob du vor
Finsternissen, tobenden Stürmen, Kriegsgeheul, Schneeregen, heftigem Hagel
und Schneestürmen davonliefst. In deiner Furcht suchst du nach einer
Zuflucht, und du entkommst und verbirgst dich — wie vorher schon gesagt —
in Palästen, felsigen Schlupfwinkeln, Erdhöhlen, Waldesdickicht oder in
Lotosblüten, die sich über dir schließen. Dabei fragst du dich, ob sie
dich hier herausholen können. >Wenn sie mich von hier herausholen, ist
alles vorbei<, denkst du, und im Zweifel, ob du sie loswerden kannst,
klammerst du dich an
Da es für diese Zeit eine tiefe Unterweisung gibt, höre zu und präge sie
dir ein! Zu der Zeit, da dich die Folterknechte bis zur Hilflosigkeit
jagen oder da Furcht und Schrecken dir erscheinen, bringe unmittelbar eine
furchterregende, zornige Gottheit in dir zur Entfaltung, die alle Arten
von Bedrohung zunichte macht, vollende sie in einem Augenblick, wie z. B.
den Erhabenen Che-mchog Heruka oder Hayagriva oder Vajrapani, oder wenn du
einen Yi-dam hast, [vollende] dessen große Gestalt deutlich mit
allen Gliedern. Durch ihren Segen und ihr Mitleid wirst du die
Folterknechte los, und du hast die Kraft, die Pforte des Schoßes zu
schließen. Da diese Unterweisung von tiefem und echtem Inhalt ist, präge
sie dir ein!
Sohn der Edlen, ferner werden die himmlischen Götter usw. durch die Kraft
ihrer Meditation geboren. Der größte Teil der Gattungen der Dämonen, wie
der Hungergeister usw., verändern bereits im Zwischenzustand ihre
Gemütskräfte, und so haben die Wesen der Hungergeister, Teufel und Dämonen
die Kraft zu vielerlei Verwandlungen. Da sie zu einem Geist-Wesen wurden,
erscheinen sie dir. Die im Meer und in den Lüften hausenden Hungergeister,
die achttausend Arten von Gespenstern, sie alle verwandelten ihre
Gemütskräfte zu eben diesem Geist-Wesen und erscheinen dir so. Das Beste
ist, sich zu dieser Zeit den Sinn des Großen Siegels, die Leere, zu
vergegenwärtigen. Gelingt dies nicht, dann meditiere man über die
Illusion, die der Charakter [der Welt] ist. Gelingt dies nicht, dann lasse
man den Geist an gar nichts sich klammern, sondern meditiere über den
Yi-dam als den Großen Mitleidsvollen, und man wird im Zwischenzustand
das Sein eines Buddha vollkommenen spirituellen Mitteilens erreichen.
Sohn der Edlen, wenn du nun durch die Macht deiner Taten in den Schoß
eintreten mußt, dann werde ich dich eine weitere Unterweisung zum
Schließen der Pforte des Schoßes lehren. Höre zu! Welcher Schoß auch dir
erscheinen mag, gehe nicht in ihn ein! Wenn die Folterknechte kommen und
du fliehen mußt, dann meditiere über [die Gottheit] Hayagriva!
Da du nur über ein wenig Hellsicht verfügst, erkennst du der Reihe nach
alle Orte. So wähle mit Bedacht aus, wo du hingehst! Es gibt zwei
Unterweisungen zum Auswählen der Pforte des Schoßes, um entweder im Reinen
Gefilde eines Buddha geboren zu werden oder in einem Schoß der unreinen
Wandelwelt. Handle folgendermaßen: Die scharfe Sinne haben, werden in
himmlischen Welten geboren. Deshalb sammle dich ganz und gar in dieser
Weise:
>Wehe, seit wie langer Zeit, seit zahllosen, unermeßlichen, anfanglosen
Weltzeitaltern bin ich bis heute im Sumpf der Wandelwelt versunken und so
elend. Wie viele der früheren [Lebewesen] erreichten die Erleuchtung,
während ich bis heute die Befreiung nicht erlangt habe, o weh! Von nun an
werde ich mich voll Widerwillen von der Wandelwelt abwenden, weide sie von
Herzen fürchten und dauernd ablehnen.< Da nun du dabei bist zu entfliehen,
bedenke, daß du in einer Lotosblüte auf übernatürliche Weise geboren
werden mußt, und zwar im Westlichen Gefilde, das Glückselige genannt, zu
Füßen des Buddha Amitabha. Liebe es, dich voll Hingabe in das Westliche
Gefilde, das Glückselige zu versenken! Oder konzentrierte dich auf das
jeweils von dir ersehnte Reine Gefilde, wie das Ganz Reine oder Hohes
Glück oder Dicht-Gefügt oder das Weidenblättrige oder Potala~Berg oder auf
den Lichtpalast Padmasambhavas, zu dessen Füßen; dabei sei nicht
zerstreut! Unmittelbar darauf wirst du in diesem Reinen Gefilde geboren
werden. Wenn du aber wünschst, zu Maitreya ins Tushita-Paradies zu
gelangen, dann mußt du gesammelten Sinnes denken: >Jetzt ist für mich hier
im Zwischenzustand die Zeit gekommen, da ich zum Gesetzes-könig Ajita (d.
i. Maitreya) im Tushita-Paradies gehen möge!< Und schon wirst du in
übernatürlicher Weise aus einer Lotosblüte zu Füßen Maitreyas erstehen.
Ferner, wenn dies nicht möglich ist, oder aber du möchtest gerne in den
Schoß eintreten, oder du mußt eintreten, dann gibt es eine Unterweisung,
um die Pforte des Schoßes zur unreinen Wandelwelt [zu vermeiden]. So höre!
Wie vorher, laß dir auch in bezug auf den Kontinent, [in dem du deine
Geburt suchst] raten! Mit deiner [Gabe der] Hellsicht kannst du ihn sehen,
und so tritt ein, wo der Dharma verbreitet ist. Wirst du auf
übernatürliche Weise in einem Morast unreiner Dinge entstehen, werden die
unreinen Klumpen dir eine Empfindung von Wohlgeruch vermitteln, du wirst
dich danach sehnen und in dieser Weise geboren werden. Deshalb sollst du
dieses und was immer dir erscheinen mag, nicht als solches (nämlich
Angenehmes) empfinden und weder Äußerungen von Begehren oder Haß zeigen.
Laß dir zu einer reinen Pforte des Schoßes raten! Es ist wichtig, daß du
konzentriert bist und folgendes denkst:
>Wehe, möchte ich doch zum Heile aller Lebewesen als weltbeherrschender
König oder in einem Brahmanengeschlecht, gleich einem großen Sala-Baum
oder als Sohn eines tantrischen Mystikers (Siddha) oder in einer Familie
mit einer unverfälschten religiösen Tradition oder in einer Familie, deren
Eltern voll gläubigem Vertrauen in den Dharma sind, geboren werden! Möge
ich doch Sinnvolles tun können, einen Körper erlangen, der mit dem Vorzug
ausgestattet ist, zum Heile aller Lebewesen tätig sein zu können.<
Ganz auf diese Gedanken gesammelt, tritt in den Schoß ein. Gerade zu der
Zeit, da du in den Schoß eintrittst, flehe alle Buddhas und Bodhisattvas
in den zehn Himmelsrichtungen an, die göttlichen Yi-dam und
insbesondere den Herrn des Großen Mitleids, eben diesen [Schoß] gleich
einem Götterpalast zu segnen, und erbitte inbrünstig von ihnen tantrische
Weihen. So tritt in den Schoß ein.
Da aber beim Anraten einer [geeigneten] Pforte des Schoßes die Gefahr
eines Irrtums besteht, weil du nämlich durch die Kraft deines Karmas die
Pforte eines reinen Schoßes als schlecht ansiehst und den schlechten für
gut erachtest, so also die Gefahr des Irrtums besteht, kommt zu dieser
Zeit dem Sinn des Rates große Bedeutung zu. So handle folgendermaßen!
Sobald dir die Pforte eines reinen Schoßes erscheint, verlange nicht nach
ihm! Und sobald du einen schlechten siehst, verachte ihn nicht! Ohne den
guten [Schoß] haben zu wollen und den schlechten abzulehnen, sollst du
frei von Verlangen und Haß in einer Stimmung großen Gleichmuts eintreten.
Dies ist der tiefe und wahre Sinn davon!«
Mit Ausnahme einiger weniger, die eine [ausreichende spirituelle]
Erfahrung haben, ist es schwer, bei den üblen Neigungen, [die] wie Reste
einer Krankheit [sich festsetzen], in dieser Art sich von Verlangen und
Hassen frei zu machen, und es gilt zu verhindern, daß [der Tote] zu den
Unfähigsten und Übelsten, die den Tieren gleichen, Zuflucht nimmt. Deshalb
rufe man den Toten wieder bei seinem Namen und spreche folgendes:
»Sohn der Edlen, zwar kennst du den Rat bezüglich der Pforte des Schoßes,
aber da du von Verlangen und Haß dich nicht freimachen konntest, sollst du
den Namen der Drei Kostbarkeiten aussprechen, was immer dir von den
früheren Erscheinungen auch aufsteigen mag! Nimm Zuflucht [zu den Drei
Kostbarkeiten]! Flehe den Großen Mitleidsvollen an! Aufrechten Hauptes
gehe weg! Erkenne doch wahrlich den Zwischenzustand! Höre auf, die
hinterbliebenen Nächsten, deine Söhne und Töchter, die dir in Liebe
Verbundenen, zu lieben oder zu hassen. Denn solches ist nicht zu deinem
Heil! Jetzt verweile im blauen Licht der Menschen[welt] und im weißen
Licht der Götter[welt]. Verweile in den Palästen aus Juwelen und den
Lusthainen.«
Solches erkläre man [dem Toten] bis zu siebenmal. Dann flehe man diese
Buddhas und Bodhisattvas an. Dann lese man bis zu siebenmal [die folgenden
Gebete]: Schutz vor den Schrecken des Zwischenzustands Grundlegende
Worte für den Zwischenzustand, Befreiung aus dem Abgrund des
Zwischenzustands. Dann lese man mit klarer Stimme die Texte:
Befreiung durch Tragen, Befreiung der Daseinskonstituenten, sowie
Religiöse Praxis zur Befreiung der latenten Neigungen.
Yogis von hohem Intellekt, die in dieser Weise vorgehen, werden im
Augenblick des Todes ihr Bewußtsein übertragen, und so brauchen sie nicht
in den Zwischenzustand eintreten, sondern erlangen die Befreiung, indem
sie in den sublimen Seinsgrund eingehen. Einige Lebewesen, die unter
diesen stehen, aber eine gewisse spirituelle Erfahrung haben, gelangen
nach dem Zwischenzustand der Todesstunde zu tiefer Einsicht in das Licht
des Wahren Seins. Da sie unter den Buddhas in ihrer alldurchdringenden
Universalität stehen, gehen ihnen im Zwischenzustand des Wahren Seins,
während der sieben aufeinanderfolgenden Tage die Erscheinungen der
friedvollen und schreckenerregenden Gottheiten auf. Zu dieser Zeit
erlangen — aufgrund der Ausstrahlung ihrer [früheren] Taten und besonderer
Fähigkeiten — einige die Befreiung, einige nicht. Da es viele Wege [zur
Befreiung] gibt, wird befreit, wer den ihm gemäßen Weg wahrlich erkennt.
Jene aber, deren Taten nur eine schwache Ausstrahlung besitzen und die
viele üble und unheilvolle Taten begangen haben, müssen weiter hinunter in
den Zwischenzustand des Werdens wandern. Da es ferner nicht nur eine Art
der Anleitung zur Einsicht gibt, sondern sie gleich den Stufen einer
Treppe sind, gelangen einige zur Einsicht und werden befreit, andere
nicht. Jene aber, deren Taten nur ganz geringe Ausstrahlung haben, werden,
ohne [die Wahrheit] zu erkennen, in Angst und Schrecken geraten.
Aber da es, gleich wie Stufen, viele Unterweisungen zum Schließen der
Pforte des Schoßes bzw. zum Wählen des rechten Schoßes gibt, werden einige
[die Wahrheit] erkennen, andere sie nicht erfassen.
Wer die Erscheinungen [richtig] erfaßt, der hat den unendlichen Vorzug,
einen hohen Ort [zur Wiedergeburt zu erlangen]. Selbst die Allerletzten,
die gleich den Tieren sind, werden sich [einer Wiedergeburt] in den üblen
Daseinsbereichen widersetzen können, da sie ja Zuflucht [zu den Drei
Kostbarkeiten] genommen haben. Und da sie den alle Möglichkeiten bietenden
menschlichen Körper erlangen, können sie im zukünftigen Leben einen Lama
und spirituellen Ratgeber aufsuchen, Unterweisung erlangen und so befreit
werden. Wendet man diese Lehre im Zwischenzustand des Werdens an, dann
wird die Ausstrahlung der guten Taten verbessert, so wie ein am Grund
zerstörter Wasserkanal durch das Einsetzen einer Röhre [eine verbesserte
Wirkung zeigt]. So lautet diese Unterweisung! So ist es nicht möglich, daß
irgend jemand, der diese Lehre hört, auch wenn er ein großer Übeltäter
wäre, nicht befreit würde.
Wie kommt es dazu? Auf zweierlei Weise wird [der Tote] im Zwischenzustand
empfangen: durch das Mitleid der mächtigen, friedvollen und
schreckenerregenden Götter und durch die üblen Geister und durch
Hindernisse. Da man zu dieser Zeit diese Lehre hört, verändern sich die
Erscheinungen, und man erlangt die Befreiung. Ferner, da [der Tote] keine
Stütze von Fleisch und Blut hat, sondern ein Geist-Wesen ist, kann er sich
leicht bewegen. Wenn er auch weit entfernt im Zwischenzustand umherirrt,
so kann er aufgrund seiner geringen Hellsicht [uns] doch sehen und hören.
Da er mit seinem Gedächtnis [diese Lehre] erfassen und so seine Gedanken
in einem Augenblick verändern kann, ist sie für ihn von großem Nutzen.
Beispielsweise ist [diese Lehre] einer Schleudermaschine oder einem
riesigen, nicht von hundert Männern zu bewegendem Baumstrunk zu
vergleichen, der aber im Nu an jede gewünschte Stelle zu leiten ist, wenn
er sich im Wasser befindet. Es ist ähnlich wie mit einem Pferd, das durch
den Zügel gelenkt wird. Deshalb gehe man zu allen Toten, und wenn die
Leiche da ist, soll ein Freund, solange aus den Nasenlöchern weder Blut
noch Serum austritt, immer wieder klar und deutlich [diese Lehre]
vorlesen. Solange darf die Leiche nicht bewegt werden. Bei diesen
Verpflichtungen, [die aus dem Vollzug des Rituals resultieren] darf kein
Lebewesen getötet werden, um es dem Toten zu widmen. Wer immer bei der
Leiche ist, seien es Verwandte oder Freunde, so darf einer von ihnen
weinen, wimmern oder trauern, keiner darf wehklagen. Vielmehr soll man
Gutes tun, soviel man kann.
Ferner soll man diese Lehre der Befreiung durch Hören im
Zwischenzustand sowie alle Arten von Dharma, die irgendwann verkündet
wurden, im Anschluß an diesen Leitfaden lesen, denn es ist sehr gut,
dieses vorzutragen. So lese man diesen [Text] fortwährend. Sowohl die
Bedeutung der Wörter wie die Begriffe soll man üben, sich zu merken. Denn
zur Zeit, da der Tod gewiß ist und man die Zeichen des Todes erkennt, soll
man [diesen Text] selbst lesen und im Herzen betrachten, sofern die
körperliche Kondition es zuläßt. Läßt sie es nicht zu, beauftrage man
einen Freund, das Buch zu lesen und klar vorzutragen. Darob wird man ohne
jeden Zweifel die Befreiung erlangen. Dies ist eine Lehre, die nicht der
vollendeten Übung bedarf, sondern eine, die beim Lesen befreit, beim Hören
befreit, denn tief ist die Unterweisung, die durch Lesen zur Befreiung
führt. Dies ist die tiefe Unterweisung, die auch große Übeltäter auf den
geheimen Weg [der tantrischen Vollendung] führt. Selbst wenn sieben Hunde
einen jagen, darf man die Worte und Begriffe [dieser Unterweisung] nicht
vergessen, denn dies ist die Unterweisung, um im Augenblick des Todes die
Erleuchtung zu gewinnen, eine Lehre, wie sie besser auch die Buddhas der
drei Zeiten nicht finden könnten. Dies ist die Quintessenz der Befreiung
durch Hören im Zwischenzustand, das für den Zwischenzustand einen
unterweist und die Wesen zur Befreiung führt.
Kolophon:
Dies ist ein Schatztext, den der Siddha Karmalingpa aus dem Berg Gompodar
herausgenommen hat. Dies möge der Lehre und allen Wesen zum Heile
gereichen! Allen sei Glück!