Das Tibetische
Totenbuch - Bardo Thödol

In diesem Kapitel geht es vornehmlich um das Thema Tod, Zwischenzustand
und Wiedergeburt im Tibetischen Buddhismus.
Der Bardo Thödol, bekannter unter dem Titel "Das tibetische Buch der
Toten" ist dazu der Grundlagentext, der sich in erster Linie an den Laien
richtet, d.h. an Menschen die nur wenig Zeit für ihre spirituelle
Weiterentwicklung aufwenden können und über eher negatives Karma verfügen.
Es legt einen Leitfaden in die Hand, wie man mit den Phänomenen, die
während des Todes und des Zwischenzustandes auftreten, umgehen sollte, um
trotz schlechter Voraussetzungen Befreiung aus dem bedingtem Dasein zu
erlangen. Ferner ist es eine Hilfe auch im Umgang mit dem Tod von
Freunden, Verwandten und Bekannten, und kann eine wichtige Unterstützung
zu richtigem Verhalten im Umgang mit Verstorbenen und zur Trauerarbeit
sein.
Für diese Seite wurde die Ausgabe von Eva und Lobsang Dargyay gewählt, da
sie sich am engsten an die sprachlichen Vorgaben hält und um eine gute
Wiedergabe des religionswissenschaftlichen Hintergrundes bemüht. Leider
gibt es auch hier einige schwammige Formulierungen und an mancher Stelle
würde man sich eine konkretere Wiedergabe der philosophischen
Zusammenhänge wünschen. Jedoch werden dafür esoterische Schnörkeleien und
Eigeninterpretationen vermieden, was sie wohltuend von anderen Ausgaben
unterscheidet.
Vielleicht mag man sich jetzt fragen, wie man als Westler und
Nichtbuddhist mit dem stark von tibetisch-buddhistischer Ikonographie
geprägten Text umgehen soll und ob er überhaupt eine Bedeutung für andere
spirituelle Richtungen bzw. Religionen haben kann. Wer den Text aufmerksam
liest, wird aber selbst schnell Analogien finden können, denn da es sich
hier um die Beschreibung von Erscheinungen des eigenen Geistes handelt,
liegt es auf der Hand, dass sie sich dem jeweiligen spirituellen und
kulturellen Kontext anpassen.
Für jemand, der einem christlichen Lebensraum angehört, wäre es durchaus
wahrscheinlich, dass sich die Erscheinungen der fünf Dhyani-Buddhas als
Engel manifestieren, was sich mit vielen Nahtodeserfahrungen decken würde.
C.G. Jung hatte seinerzeit bereits einen Versuch gemacht, das Tibetische
Totenbuch für seine Archetypenlehre zu verwenden und einen eigenen
kommentierten Band dazu herausgebracht. Obwohl dieser Ansatz bemerkenswert
ist, birgt er in sich die Problematik, dass die psychologische Definition
von Archetypen nicht deckungsgleich mit dem tibetisch-buddhistischen
Verständnis der beschriebenen Phänomene ist.
Kernanliegen des Bardo Thödol ist zudem, jenseits des Zustandes der
Bildhaftigkeit zu gelangen. Von daher ist es eigentlich nicht
notwendig, mit großen Analogieschemata aufzuwarten, sondern vielmehr ein
grundsätzliches Verständnis der Vorgänge im eigenen Geist erforderlich.
Für die meisten Menschen unseres Kulturkreises dürfte ohnehin nur der
dritte Teil des Bardo Thödol relevant sein. Dies hängt mit dem Umstand
zusammen, dass frisch Verstorbene bei uns kaum die Möglichkeit haben,
ungestört die Prozesse wie sie in Teil 1 und 2 beschrieben sind, zu
durchlaufen. Die bloße Berührung des Leichnams - und sei es nur das
Zudrücken der Augen - beendet bereits das Bewusstsein für die subtilen
Prozesse des ersten und zweiten Teils und der Tote gelangt erst wieder
direkt im Bardo mit Beginn des 3. Teils zu Bewusstsein.