Was tun, wenn der Tod
kommt?
Interview mit Tenzin
Wangyal Rinpoche
von
Dorothea Mihm
So
wie Zen gelegentlich als die Essenz des ostasiatischen Buddhismus
bezeichnet wird, so wird Dzogchen, die »Große Vollendung«, manchmal als
die Essenz des tibetischen Buddhismus bezeichnet. Es wird hauptsächlich
von den Bön-Meistern und den Meistern der Nyingma-Linie gelehrt und
beinhaltet die Fähigkeit zur unmittelbaren, vollständigen Erkenntnis.
Tenzin Wangyal Rinpoche ist ein Meister der Bön-Tradition, der
tibetischen Urreligion, die sich dort vor ungefähr tausend Jahren mit
dem Buddhismus verband
? Rinpoche, was sagt Dzogchen zu Sterben und Tod?
(lacht) Die ultimative Perspektive von Dzogchen ist: Es gibt
keinen Tod. In relativer Hinsicht jedoch haben wir Menschen einen
Körper, in dem unser Geist wohnt. Und da gibt es eine Trennung zwischen
Geist und Körper, und diese Trennung nennen wir Tod. In der tibetischen
Tradition ist der gesamte Prozess von Sterben und Tod und die Frage, wie
man diesen Prozess, insbesondere auch nach dem Tod unterstützen kann,
sehr wichtig. Viele Menschen leben ihre Spiritualität nicht so sehr für
dieses Leben, sondern der Sinn ihres spirituelles Lebens liegt in der
Zeit nach ihrem Tod. Der Prozess von Sterben und Tod, das Auflösen und
die Transformation der Elemente, darüber gibt es ein sehr tiefes Wissen
im Dzogchen. Dieser Auflösungsprozess der Elemente folgt der Sequenz
Erde, Wasser, Feuer, Luft, Raum. Es geht darum zu lernen, das
Bewusstsein in diesem Auflösungsprozess vom Groben zum Feinstofflichen
aufrecht zu erhalten.
? Kannst du uns die verschiedenen »Bardos« erklären?
Man spricht üblicherweise von vier Bardos: dem Lebensbardo, dem
Nahtodesbardo, dem Bardo des klaren Lichts und dem der Existenz. Bardo
bedeutet Zwischenzustand. Alle Zustände, in denen wir uns befinden, vom
wachen Leben bis zum Tod, sind Zwischenzustände. Das Bardo des Lebens
dauert von der Geburt bis zur Todeskrankheit. Der Zeitraum vom Beginn
der Todeskrankheit bis zum Moment des Sterbens ist der Nahtodesbardo.
Nach dem Tod folgt der Bardo des klaren Lichts. Das ist zunächst ein
leerer Zustand, aus dem heraus dann Visionen aufsteigen. Wenn man
anfängt Visionen zu haben, findet man in Beziehung zu diesen Visionen
Identitäten. Diese Identitäten wiederum bereiten eine neue Geburt, ein
neues Leben vor. Dies wird dann Zwischenzustand der Existenz genannt und
ist der vierte Bardo.
? Wird dieser Zustand auch der Bardo der Wiedergeburt genannt?
Ja, das ist dasselbe.
? Im Westen richten 99 Prozent der Menschen den Fokus auf den Bardo
des Lebens – im Gegensatz zu den Menschen des Ostens.
Zunächst einmal gibt es im Osten einen starken Bezug zur Wiedergeburt,
zum nächsten Leben. Deswegen haben die Menschen dort das Gefühl, gute
Chancen zu haben, wirklich lange zu leben (lacht). Vielleicht ist es so,
dass die Menschen im Westen denken: »Lasst uns dieses Leben leben, denn
das ist alles.« Also richten sie ihren Fokus auf dieses Leben. Ich
denke, im Allgemeinen spielt im christlich dominierten Westen der Glaube
an Wiedergeburt oder die Lehre von Karma kaum eine Rolle. Das hat zur
Folge, dass die Menschen sich auf die materiellen Dinge und auf dieses
Leben konzentrieren. Und manche Menschen sind ja auch sehr erfolgreich
in der materiellen Welt: Sie schaffen es, zum Mond zu fliegen usw. Das
sind sehr machtvolle Weisen, die materielle Welt oder das ganze
Universum zu kontrollieren. Aber wenn der Tod kommt, verlieren sie die
Macht. Und das ist nicht alles: Manchmal leiden sie dann sehr stark.
Ich kenne einige Leute aus der Geschäftswelt, die alles Mögliche
kontrollieren, und die sich einbilden, sie könnten alles, auch den Tod,
kontrollieren. Aber dann begreifen sie: Wenn der Tod kommt, kann man
einfach nichts tun. Ich glaube, es ist sehr schwer für diese Leute, dem
ins Auge zu schauen, dass das nicht ihrer Kontrolle unterliegt.
Menschen, die an irgendeine Religion glauben und eine spirituelle Praxis
durchführen, haben die Möglichkeit, auch auf eine nicht-materielle Welt
jenseits der materiellen zu vertrauen.
? Wie können wir uns auf den Tod vorbereiten?
Ich denke, als Erstes ist es wichtig, Vergänglichkeit zu begreifen. Man
muss wissen, wie man Wandel akzeptieren und sich an Veränderungen
anpassen kann. Ich meine nicht so sehr äußere Situationen, sondern eher
das eigene Leben: Krankheit, Alter. Du kannst ein professioneller
Rennläufer sein, und eines Tages stellst du fest, dass du nicht mal mehr
gehen kannst. Man sollte in der Lage sein, über all diese
Lebensrealitäten zu reflektieren, bevor man ihnen ausgesetzt ist. Im
Osten bereiten sich die Menschen darauf vor, indem sie schon früh mit
der grundlegenden Praxis beginnen und über Vergänglichkeit und
Veränderungen kontemplieren und meditieren.
Dann ist ein tiefes Vertrauen in sich selbst wichtig, unabhängig davon,
was man hat oder tun kann. Sondern es geht einfach um das tiefe
Vertrauen in den, der du bist. Das ist sehr machtvoll im Moment des
Todes. Man kann es in den Augen der Sterbenden und an ihrer
Geisteshaltung sehen, wenn sie vollständig vertrauen. Sie sind nicht
besonders stark davon abhängig, wen oder was sie verlieren, sie sind
nicht abhängig von ihrem Körper. Sie können nicht mehr die Hand heben,
aber man kann das Lächeln in ihrem Gesicht sehen. Da ist viel Vertrauen.
Und das lernt man, lange Zeit vor dem Tod, durch die Vorbereitungen.
Ich glaube, in der Psyche des Menschen gibt es kein echtes Akzeptieren
des Todes. Im Gegenteil, dort ist viel Widerstand, der es dann so schwer
macht, wenn der Tod kommt.
? Wie einfach oder schwierig ist es, im Nahtodesbardo in den Zustand
der Erleuchtung einzutreten?
Oh, das ist sehr schwer (lacht). Ein guter Test ist: Wie einfach oder
schwer ist es, in den Zustand des Erkennens zu treten, wenn man schläft
und die Träume kommen. Das gibt uns einen Anhaltspunkt. Es ist wichtig,
nicht nach großen Dingen Ausschau zu halten. Es geht darum, den Tod
einfach zu akzeptieren, das ist schon sehr gut. Man kann jeden Moment
dazu nutzen zu reflektieren. Gerade jetzt sitzen wir hier, trinken ein
Glas Wein, reden, und vielleicht sterben wir morgen schon. Ich denke, es
geht nicht nur um die Frage zu sterben, sondern es geht auch darum zu
leben. Natürlich ist es für viele Menschen schwer zu sterben. Aber für
sie ist es auch schwer zu leben.
Menschen, die zum Tode führende Krankheiten haben, verblüffen uns of
damit, dass sie ganz anders im Augenblick leben. Sie leben im Moment und
wissen nicht, ob sie morgen noch leben werden. Ich habe das bei einigen
gefühlt. Für sie mag so ein Interview nicht langweilig oder erschöpfend
sein, sondern eine wundervolle Erfahrung, Freude am Leben. Da ist diese
Dringlichkeit. Ich habe erlebt, wie eine Frau, die chinesische
Akupunktur erforschte, einen Vortrag vor todkranken Menschen hielt. Das
war sehr interessant für mich. Sie sprach im Grunde über ihr Ego: welche
Forschungen sie machte, welche Therapie sie für möglich hielt usw. Aber
wen von den Kranken interessiert das? Was ist jetzt? Menschen, die nach
Hilfe suchen, leben in der Zukunft. Aber es geht um die Gegenwart, nicht
um das Morgen. Wenn man eine todbringende Krankheit hat, geht es um das
Jetzt. Das ist es, was die Betroffenen lernen, die Kostbarkeit des
Augenblicks. Darüber erlangen sie ein bestimmtes Verständnis.
? Rinpoche, in welchem Verhältnis stehen das Träumen und der Tod
miteinander? Du hast ein Buch darüber geschrieben, das meines Wissens
noch nicht ins Deutsche übersetzt worden ist.
Der Prozess des Schlafens und der Prozess des Sterbens werden als sehr
eng verwandt betrachtet. Die Ähnlichkeit besteht in der Art und Weise,
wie man den Kontakt zur äußeren Welt verliert und dabei die inneren
Prozesse wahrnimmt oder nicht. Wenn man im Außen alles verliert – wie
findet man sich dann in der inneren Welt wieder? Es geht nicht nur um
die konzeptionelle Beziehung des Egos zur äußeren Welt, sondern ganz
direkt um die Sinneswahrnehmungen. Was ist, wenn man die verliert? Wenn
man aufhört, die Formen zu sehen, wenn man aufhört zu riechen, wenn man
aufhört Klänge zu hören, die man mag oder nicht mag? Wenn man die
Verbindung zu diesen äußeren Dingen verliert, verliert man in gewisser
Weise sich selbst. In unserem täglichen Leben ist die äußere Welt
ständig dabei zu definieren, wer wir sind. Wenn ein Praktizierender die
Verbindung zur äußeren Welt verliert, hat er die Möglichkeit, sich
innerlich zu finden. Aber andere Menschen, die keine Erfahrungen über
ihr Inneres gemacht haben, wissen nur über ihre Beziehung zum Außen, wer
sie sind.
? Wir Menschen im Westen haben große Angst vor Sterben und Tod.
Inwieweit ist das verbunden mit der Angst vor dem Leben?
Ich denke, das ist genau dasselbe. Die Angst vor dem Tod ist im Grunde
die Angst, sich zu verlieren. Wie definieren wir uns denn üblicherweise
selbst? Alles was ich bin, ist, was ich in meinem Leben getan habe und
was ich besitze. Wer ich bin ist, das liegt im Außen und nicht in einem
Wissen oder einer Wahrnehmung des inneren Selbst. Also verliere ich
alles, und das ist natürlich angsteinflößend. Aber wenn man die
Erfahrung oder das Vertrauen in das innere Selbst besitzt, das nicht
abhängig vom Außen ist, dann ist der Tod weniger beängstigend.
Philosophisch gesprochen: Wenn man eine stärkere Verbindung zur Basis
hat, hat man weniger Angst. Wenn man eine stärkere Verbindung zur
Klarheit hat, dann ist man jenseits von Hoffnung. Wenn man sich jenseits
von Angst und Hoffnung befindet, gibt es keinen Grund mehr, den Tod zu
fürchten.
? Wie können wir Lebenden Sterbende unterstützen? Die Frage bezieht
sich zum einen auf die Zeit bis zum letzten äußeren Atemzug, aber auch
darauf, was wir tun können, nachdem das äußere Atmen aufgehört hat.
Ich denke, die beste Art der Unterstützung liegt darin, das Individuum,
das stirbt und seine Bedingungen gut zu kennen. Hat diese Person einen
spirituellen Hintergrund? Hat sie Vertrauen zu sich selbst? Hat sie die
Fähigkeit zu arbeiten in Bezug auf das, was gebraucht wird? Wenn
Menschen sterben, heißt das für uns, nicht zu versuchen, sie zu retten,
sondern zu helfen, dass sie gut sterben können. Das sollte man nicht
vergessen. In solchen Sterbesituationen einfach da zu sein, ist genug.
Manchmal ist es besser, nicht so viel zu sprechen, manchmal ist es gut
zu sprechen. Das hängt immer von dem Sterbenden ab. Ich kenne
Situationen, in denen ein Sterbender in Frieden mit sich ist, aber die
Person, die ihn begleiten will, ist nervös. Dann ist diese Person keine
Hilfe, sondern eine Störung. Es ist wichtig wahrzunehmen, was der
Sterbende gerade braucht. Wenn man als Begleitender stark anhaftet, ist
es besonders schwer für den Sterbenden zu gehen.
Aus der Perspektive der tibetischen Tradition ist es wichtig, dass, wenn
ein Mensch gestorben ist, es nicht so zu sehen, dass dieser Mensch nun
gegangen ist und nicht mehr existiert. Stattdessen sollten wir die
Person als im Übergang befindlich betrachten. Die Seele nimmt eine
andere Form an. Während dieses Übergangs benötigt die Person
Unterstützung – wie in jedem Übergang. Traditionell werden Speisen als
Opfergaben verbrannt und dergleichen. Wenn man isst, wird versucht, eine
Verbindung aufrecht zu erhalten und zumindest für die ersten 49 Tage
Unterstützung zu geben. Im Westen sind die Kinder oft nicht sehr mit den
Eltern verbunden. Wenn die Eltern sterben, wollen die Kinder das Geld
erben, aber sie wollen die Eltern eigentlich nicht sehen und ihnen
helfen. Ich denke manchmal, es wäre auch für die Kinder gut, nicht nur
an sich zu denken, sondern zum Beispiel das geerbte Geld für wohltätige
Zwecke zu spenden, für Dinge, die den Eltern am Herzen lagen, um damit
auch ihrer eigenen Seele und ihrem Geist zu helfen.
? In New York fand Ende August der »Millenium Friedens Gipfel«, ein
Treffen der religiösen Oberhäupter der Erde statt, zu dem der Dalai Lama
mit Rücksicht auf China nicht eingeladen worden ist. Möchtest du dazu
etwas sagen?
Ich denke, dahinter stehen politische und wirtschaftliche Gründe. Die
Chinesen üben in solchen Situationen viel Druck aus. Aber ich glaube
nicht, dass diese Dinge so weitergehen werden, denn viele Menschen
wissen, wie die Wahrheit aussieht, und werden das nicht aus
Geschäftsgründen leugnen. Seine Heiligkeit war einmal in Houston und
sprach mit Geschäftsleuten. Diese Leute sollten sich über die Situation
im Klaren sein. Und China braucht Amerika mehr, als Amerika China
braucht. Eigentlich haben diese Menschen mehr Einfluss, China zu
verändern als andersherum.
Dorothea Mihm, Jg. 1958. Praxis »Adarsha« für Bewusstseinsprozesse. Sie
organisiert Meditationscamps im Himalaya und in den Nargajuna Hills, im
Regenwald Nepals.
Email:mihm@praxis-adarsha.de
Website des Rinpoche:
www.ligmincha.org
Geshe Tenzin Wangyal Rinpoche ist ein Meister der Dzogchen Tradition
Tibets. Er wurde in Indien geboren, nach der Flucht seiner Eltern vor
der chinesischen Invasion Tibets. Er wurde als eine Reinkarnation des
berühmten Meisters Khung Tul Rinpoche erkannt, der nicht nur ein großer
Meditierer war, sondern auch ein bekannter Gelehrter und produktiver
Autor. Lama Tenzin praktiziert Dzogchen seit seinem 13. Lebensjahr und
studierte bei vielen Bön- und buddhistischen Meistern. Er ist einer der
zwei Bön-Meister, die im Westen leben und qualifiziert sind, diese
Lehren weiterzugeben. Zusätzlich hält er den Grad eines Geshe, den
höchsten akademischen Grad in den tibetischen spirituellen Traditionen.
Rinpoche lebt heute in Charlottesville, Virginia, wo er das Ligmincha
Institut für die Erhaltung der Religionen und Kulturen Tibets gegründet
hat.