Abschiedszeremonien im Zen-Buddhismus

Die Bestattung der 6-jährigen Marie
Die Bestattung der 84-jährigen Schriftstellerin Lilian

 

Die Bestattung der 6-jährigen Marie

Entnommen aus "Das Zen-Buch vom Leben und vom Sterben" von Philip Kapleau

Diese Trauerfeier wurde anlässlich des Todes eines sechsjährigen Kindes abgehalten, das an einer Rauchvergiftung gestorben war. Zwar gehörten die Eltern formell weder einer der großen Kirchen noch einer anderen Glaubensgemeinschaft an. Doch bis zu einem gewissen Grad identifizierten sie sich mit den Lehren des Hinduismus, des Buddhismus und des Christentums. Am Morgen nach Maries Tod baten mich die Eltern, bei der Organisation einer Trauerfeier für ihre Tochter behilflich zu sein und diese dann zu leiten. Mit Unterstützung verschiedener Trauergäste errichtete ich rasch einen schlichten Altar, auf dem wir ein großes Foto von Marie aufstellten. Hinzu kamen handgepflückte Blumen, Kerzen und ein paar von Maries Lieblingsspeisen. Vor dem Altar lag Marie in einem selbstgefertigten Sarg.
Zu Beginn erklärte ich allen Beteiligten, der Hauptzweck einer Trauerfeier bestehe darin, Marie zu helfen. Dies könnten wir bewerkstelligen, indem wir durch unsere Gesänge und Rezitationen unsere Liebe zuwendeten und für ihren schweren Übergang von der einen zur anderen Seite des Daseins den Segenstrom uralter Weisheiten erbäten. Weiterhin sagte ich, für uns gebe es keinen Grund, untröstlich zu sein, auch wenn man aus der Warte des Alltagsbewusstseins den Tod eines kleinen Kindes als Tragödie ansehen könne: Marie wurde geboren, als es notwendig für sie war; und sie starb, als sie sterben musste, weil sie ungeachtet ihres zarten Alters ihr Karma für dieses Leben erschöpft hatte.
Als nächstes sangen wir gemeinsam das
Herz-Sutra. Eine der beteiligten Personen schlug dazu eine Trommel, und eine andere ließ in gewissen Abständen eine kleine Klangschale erklingen.
Danach sprachen wir mit großer Anteilnahme dreimal ein
Gebet, auf dass Marie die hilfreichen Kräfte der Bodhisattvas zugute kämen. Zeile für Zeile trug ich das Gebet vor, und alle Anwesenden sprachen es nach.
Nach diesem Bittgebet wurden die
Blumen-Verse an Marie gerichtet.
Danach traten alle Anwesenden einzeln an den Altar heran und opferten eine kleine Prise Weihrauchpulver. Anschließend begaben sich die rund 150 Trauergäste zu Fuß zu einer ungefähr eineinhalb Kilometer entfernten Kirche. Auf dem Weg dorthin bliesen einige von ihnen ein Muschelhorn, andere ließen sanft die heilige Silbe "Om" ertönen, so dass sich die Klänge miteinander vermischten. Wieder andere rezitierten leise Verszeilen aus den verschiedenen spirituellen Überlieferungen.
Bei der Ankunft in der Kirche wurde der kleine Sarg inmitten von Blumen und Kerzen auf den Altar gestellt. Der Ablauf des gesamten folgenden Geschehens war völlig spontan. Nacheinander erhoben sich verschiedene Leute, sangen ein Volkslied oder rezitierten sakrale Texte. Freunde und Verwandte riefen Erlebnisse mit Marie in Erinnerung. Jemand spielte auf der Mundharmonika wehmütig-beschwörend die Melodie von "Going Home".
Danach gingen wir hinüber auf den Friedhof, wo einige enge Freunde der Familie Maries Grab aushoben. Währenddessen bildeten die anderen einen großen Kreis, ergriffen die Hände des Nächststehenden und stimmten "Om" an. Die Klänge der unablässig geblasenen Muschelhörner setzten einen voll tönenden und zugleich bedeutungsvollen Kontrapunkt - bedeutungsvoll insofern, als ja in verschiedenen spirituellen Überlieferungen der Klang eines Muschelhorns den Atem eines neuen Lebens symbolisiert.
Maries Sarg wurde jetzt langsam in das Grab hinabgelassen, um das die Schar der Trauernden versammelt war. Maries Mutter und andere, die Blumen mitgebracht hatten, ließen diese auf den Sarg fallen, der danach mit ausgehobener Erde bedeckt wurde.
Die Graböffnung war bald aufgefüllt. Anschließend klopfte Maries Mutter sorgsam mit den Füßen die Erde fest, so, als decke sie ihre Tochter für einen langen Schlaf zu. Als abschließende Geste brachte sie ein von ihrem Mann angefertigtes Holzkreuz an seinen Platz. Ein weiteres Mal bildete die große Menschenschar einen Kreis. Man fasste einander an den Händen, sang "Om" und umschritt das Grab.
Unter finanziellen Gesichtspunkten betrachtet, war der Aufwand für dieses Begräbnis ganz gering. Bis auf die Kosten für das Holz zur Anfertigung des kleinen Sarges und bis auf die Spende, die der Priester für die Benutzung der Kirche und für das Privileg, Marie auf dem Kirchenfriedhof zu begraben, erhielt, hatten die Eltern keine Ausgaben. Wichtiger aber ist: Diese Art der Bestattung, bei der sich Maries Eltern und Freunde ohne Hinzuziehen eines Bestattungsunternehmers persönlich um ihr verstorbenes Kind kümmerten, verhalf ihnen dazu, Marie auf heilsame Art und Weise Lebewohl zu sagen.

 

Die Bestattung der 84-jährigen Schriftstellerin Lilian

Entnommen aus "Das Zen-Buch vom Leben und vom Sterben" von Philip Kapleau

Bei dieser Zeremonie handelte es sich um eine formelle Trauerfeier im Schreinraum des Zen-Zentrums von Rochester, dem Lilian bereits seit vielen Jahren angehörte. Solch eine Zeremonie kann, unabhängig davon, welcher Religionsgemeinschaft die Betreffende angehört beziehungsweise ob sie konfessionslos ist, für jeden ausgerichtet werden.
Lilian war eine Schriftstellerin in den Achtzigern und bei ihren Mitbürgerinnen und Mitbürgern eine bekannte Persönlichkeit. In ihrem Testament hatte sie festgelegt, dass bei ihrer Bestattung der langsame Satz (der so genannte Trauermarsch) aus Beethovens Dritter Symphonie, der Eroica, gespielt werden sollte. Würdevoll und wehmütig, wenn auch nicht frei von einem gewissen Ringen und Hoffen, endet die Musik im Tonfall gelassenen Einverständnisses - in all dem drückte sich Lilians Streben nach persönlicher Erfüllung aus.
Beim Betreten des Schreinraums wurden die Familienangehörigen und Freunde von den Klängen dieser Musik begrüßt. Sie gab den Ton an für das, was nun folgte.
An einem Ende des Schreinraums stand ein Altar. Auf ihn hatten wir ein großes Foto von Lilian, Blumen und das in Damaszener Seide eingehüllte Gefäß mit der Asche gestellt. Da Rot ihre Lieblingsfarbe war (sie hatte einmal gesagt, Rot stehe für das Leben), hatten die Blumen und der Seidenstoff verschiedene Rottöne. außerdem standen brennende Kerzen auf dem Altar und immergrüne Zweige - das Kerzenlicht als Symbol des ewigen Lichts, die Kiefernnadeln als Sinnbild des immerwährenden Lebens. Das Foto ermöglichte es den Anwesenden, ihre Energien konzentriert auf Lilian auszurichten.
Als wir begannen, wurde die Musik so leise gedreht, dass sie - bis zum Ende der Feier - dezent im Hintergrund blieb. Ich erklärte, der Hauptzweck der Bestattungsriten bestehe darin, Lilian zur wahren Natur von Geburt und Tod erwachen zu lassen. Es gehe uns nicht nur darum, ihre positiven Eigenschaften herauszustellen und ihr Ableben zu beklagen.
Anschließend rezitierten wir alle
"Das Herz der vollkommenen Weisheit". Dieser Text bringt die Weisheit der spirituellen Meister des Buddhismus in Bezug auf die Natur der letztendlichen Wirklichkeit auf den Punkt. Der Sprechgesang dieses Textes gilt als außerordentlich wirkungsvolle Methode, den Geist von den Schleiern der Verblendung zu befreien. Er enthält die Kernbotschaft, das Herzstück all jener Weisheitsschriften, die auf die Belehrungen des Buddha zurückgehen. Man nennt ihn auch das Herz-Sutra. Sein Sinngehalt lässt sich nicht mit dem Verstand, sondern nur mit dem Herzen erfassen - das heißt durch eigene, tiefste Intuition. Daher meint "vollkommene Weisheit" hier ebenso transzendente Weisheit wie auch den Weg, auf dem wir zu dieser Weisheit gelangen können, und den Text jener Belehrung, die uns zur Verwirklichung dieser Weisheit verhilft.
Man rezitiert diesen Text für die Verstorbenen, weil sie - ohne Körper und ohne Geist im gewöhnlichen Verständnis dieser Begriffe - nun besser in der Lage sind, seine tiefere Bedeutung zu erfassen und sich dadurch leiten zu lassen.
Eine enge Freundin von Lilian las nun ein Gedicht über die Natur und den kosmischen Rhythmus. Anschließend schilderten Lilians Haushälterin und eine weitere Freundin Situationen mit Lilian, die ihnen viel Freude bereitet hatten, und ließen die Jahre ihrer Freundschaft Revue passieren. Danach wurden das Bestattungsgebet und die
Blumen-Verse  gelesen, letztere ausdrücklich an Lilian gerichtet.
Als abschließendes Ritual trat jeder der Anwesenden an den Altar heran, betrachtete eingehend Lilians Foto, nahm eine Prise Weihrauchpulver und brachte es mit einer Abschiedsverbeugung, die Handflächen aneinander gelegt, auf einem glühenden Stück Holzkohle in der Räucherschale dar.
Damit war die formelle Feier zu Ende. Die Anwesenden begaben sich nun in einen anderen Raum des Zentrums, wo Erfrischungen gereicht wurden, und fuhren damit fort, die Erinnerung an Lilian aufleben zu lassen.

 

 

 

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